Ein kleiner, heller Einkaufsladen an der High Street in Walthamstow im Nordosten von London: Ein indischstämmiger Ladenbesitzer führt eine Art erweiterten Kiosk mit Zeitungen, Heften, Süssigkeiten und Getränken. Der Inhaber schloss mit der Post einen Vertrag ab und richtete im hinteren Teil des Ladens zwei Postschalter ein. Das Angebot umfasst die gleichen Dienstleistungen wie in einer grossen Postfiliale: Alle Arten von Briefen und Paketen können aufgegeben und abgeholt werden, Ein- und Auszahlungen in bar oder mit Karte sind möglich, Geldüberweisungen in alle Welt, Geldwechsel, Kontoeröffnungen und noch vieles mehr.
40 Gehminuten entfernt findet sich an der Forest Road eine weitere Postfiliale. In einem Kopierladen mit Kioskartikeln bieten Mitarbeiter an einem extra Postschalter das volle Serviceprogramm.
Auch in Kleinstfilialen 95 Prozent der Dienstleistungen
Letztes Jahr umfasste das Postnetz in Grossbritannien 11 643 Filialen. Die staatliche Postbürogesellschaft Post Office Limited betreibt lediglich noch 315 Filialen selbst. Alle anderen werden auf Basis eines Agenturvertrags durch Dritte geführt. Grossbritannien will die Zahl der Post-Filialen bei rund 11 500 halten. In den letzten Jahren sprachen Parlament und Regierung 2,5 Milliarden Franken für den Erhalt und die Modernisierung des Filialnetzes. Laut Kathryn Hollingsworth von Post Office Limited lautet die Vorgabe, dass auch die kleinste Filiale einen bedienten Postschalter aufweisen und 95 Prozent des Dienstleistungsangebots abdecken muss.
In der Schweiz ersetzt die Post die Poststellen seit mehreren Jahren durch Agenturen. Diese werden von Dritten geführt und sind meist in Dorfläden untergebracht. Gemäss Angaben der Post gab es Ende 2016 in der Schweiz 1323 Poststellen und 849 Postagenturen (siehe Grafik). Bereits 2020 soll das Verhältnis umgekehrt sein: Die Post plant ein Netz mit 800 bis 900 traditionellen Poststellen und 1200 bis 1300 Postagenturen.
Postgeheimnis ist in Schweizer Agenturen nicht gewahrt
Im Gegensatz zu Grossbritannien sind die Postagenturen in der Schweiz aber kein gleichwertiger Ersatz für eine Poststelle. Sie bestehen in der Regel aus einer vier Quadratmeter grossen Selbstbedienungsbox, eingezwängt zwischen Lebensmittelregalen. Einen Schalter gibt es nicht. Der Kunde muss seine Postgeschäfte mit Hilfe eines Automaten und einer Waage selbst erledigen. Bezahlt wird an der Ladenkasse. Hat ein Kunde ein Problem, kann er das Ladenpersonal um Hilfe bitten und darauf hoffen, dass es weiterweiss. Das Postgeheimnis ist nicht gewahrt, denn Briefe und Päckli liegen häufig offen bei der Kasse herum.Das Dienstleistungsangebot ist gegenüber einer Poststelle klar reduziert:
Bareinzahlungen sind nirgends möglich, mancherorts sind sogar Karteneinzahlungen ausgeschlossen.
Barauszahlungen mit der Postfinance-Card sind bis maximal 500 Franken vorgesehen, garantiert sind nur 50 Franken.
Postagenturen können Betreibungsurkunden, gewisse Nachnahmen und Zahlungsanweisungen nicht aushändigen. Sie können weder einen Massenversand annehmen noch Konten eröffnen. Selbst das Briefmarkensortiment ist beschränkt.
Post-Sprecher Oliver Flüeler verteidigt die Agenturen: «Sie bieten die am häufigsten nachgefragten Dienstleistungen für Privatkunden an.» Es ergebe keinen Sinn, die Schweiz mit Grossbritannien zu vergleichen.
Das sehen viele Kunden anders. Rosemarie Staub etwa ist in der Agentur in Hettlingen ZH mehrmals mit ihren postalischen Anliegen aufgelaufen. Ihr Fazit: «Das verdient den Namen Service public nicht mehr.» Sie sucht nun die Poststelle im Nachbardorf Seuzach ZH auf – solange diese noch existiert.