Politiker und Parlament: Wegschauen geht nicht mehr
Nach der Ablehnung der Volksinitiative Pro Service public können Bundesrat und Parlament nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Über 780 000 Stimmbürger sagten Ja.
Inhalt
saldo 11/2016
06.06.2016
Letzte Aktualisierung:
24.04.2017
Jürg Fischer und René Schuhmacher
Die Fakten blieben im Abstimmungskampf unbestritten: Steigende Preise und Serviceabbau bei den Bundesbetrieben trotz riesigen Gewinnen, überrissene Managerlöhne, steigender Druck auf die Angestellten, Abführung der Gewinne an die Bundeskasse sowie fehlende Transparenz. Das will ein grosser Teil der Bevölkerung nicht weiter dulden. Über 780 000 Stimmbürgerinnen und Stimmbürger (32,4 Prozent) sagten am Sonntag Ja zu einer Trendwende: Die Bundesbetriebe so...
Die Fakten blieben im Abstimmungskampf unbestritten: Steigende Preise und Serviceabbau bei den Bundesbetrieben trotz riesigen Gewinnen, überrissene Managerlöhne, steigender Druck auf die Angestellten, Abführung der Gewinne an die Bundeskasse sowie fehlende Transparenz. Das will ein grosser Teil der Bevölkerung nicht weiter dulden. Über 780 000 Stimmbürgerinnen und Stimmbürger (32,4 Prozent) sagten am Sonntag Ja zu einer Trendwende: Die Bundesbetriebe sollen den Service für die Bevölkerung in den Mittelpunkt stellen – nicht mehr den maximalen Profit. Und sie sollen die überrissenen Löhne der Kader auf ein anständiges Niveau kürzen.
Bundesrat und Parlament hatten das Volksbegehren einstimmig abgelehnt. Damit ist offenkundig: Zwischen Politikern und Volk liegt ein tiefer Graben. Die hohe Zahl der Ja-Stimmen verpflichtet die Politiker, dem Anliegen der Bevölkerung künftig vermehrt Rechnung zu tragen.
Desinformation auf breiter Front
Dass die Initiative von einer Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt wurde, ist auf eine gewaltige Desinformationskampagne von Politikern, Bundesbetrieben, der Wirtschaft und den Medien zurückzuführen.
Ende April noch lagen die Befürworter laut verschiedenen Meinungsumfragen mit 58 Prozent Ja vorne. Ende Mai hatten sie noch 5 Prozent Vorsprung. Dazwischen lag ein einseitiger Abstimmungskampf, bei dem die Gegner oft unredliche Mittel einsetzten. Eine freie Meinungsbildung war so kaum noch möglich. Einige besonders grobe Fouls:
- Entgegen dem eindeutigen Initiativtext und dem ebenso klaren Willen der Initianten behaupteten Parlamentarier und Bundesrätin Leuthard unisono, die Initiative fordere ein «Gewinnverbot» oder «verhindere Quersubventionen» in den Bundesbetrieben.
- Bundesrat und Parlamentarier schürten bei den Angestellten der Bundesbetriebe Angst, indem sie behaupteten, die Lohnkürzung treffe nicht nur die Chefs der Bundesbetriebe, sondern alle dort Angestellten. Bundesrätin Leuthard verstieg sich sogar dazu, Swisscom-Lehrlinge einzuschüchtern – auch ihnen könne bei Annahme der Initiative der Stiftenlohn gekürzt werden.
- Die Post verschickte im Mai ihr Privatkundenmagazin an über 2 Millionen Schweizer Haushalte. Inhalt: fünf Seiten einseitige Stimmungsmache gegen die Initiative. Die Befürworter kamen mit keinem Wort vor. Andreas Glaser, Professor für öffentliches Recht an der Uni Zürich, sagt dazu: «Hier wird die Abstimmungsfreiheit verletzt.»
- Peter Füglistaler, Chef des Bundesamts für Verkehr, machte auf der offiziellen Internetseite seines Amtes Werbung für ein Nein. Zur Erinnerung: Dieses Bundesamt hat die SBB zu beaufsichtigen.
- In der Swisscom wurden die Teamleiter instruiert, Einfluss auf die Mitarbeiter zu nehmen: «Sollte Pro Service public angenommen werden, wird es Lohnkürzungen und Entlassungen geben», hiess es in Mails an Angestellte.
- Die SBB-Chefs Andreas Meyer und Ulrich Gygi verschickten ihren 33 000 Mitarbeitern im letzten Moment vor der Abstimmung ein E-Mail. Angst machender Inhalt: «Mit der Annahme der Initiative würden auch die Löhne sehr vieler Mitarbeiter zur Debatte stehen.»
- Fast alle Medien unterstützten die Gegner der Initiative: Über zwei Drittel der Artikel lehnten in ihrer Tonalität die Initiative ab. Von 22 ausgewerteten Zeitungen berichteten 17 ablehnend, 4 ausgewogen und nur eine befürwortend. Das zeigt eine Auswertung des Forschungsinstituts Öffentlichkeit und Gesellschaft der Universität Zürich.
Wie geht es jetzt weiter?
- Das Parlament und der Bundesrat müssen nach diesem Abstimmungsergebnis zur Kenntnis nehmen, dass sie an einem erheblichen Teil des Volkes vorbei politisieren. Im Abstimmungskampf betonten sie immer wieder, auch sie seien für einen starken Service public. Die Initianten werden genau hinschauen, ob die Politiker sich tatsächlich gegen einen weiteren Abbau und gegen höhere Preise in der Grundversorgung engagieren. Die Forderungen bleiben aktuell:
- Lohndeckel für die Chefs: Im Abstimmungskampf äusserten viele Gegner ihr Unverständnis über die hohen Gehälter der Chefs der Bundesbetriebe. SP-Nationalrat Corrado Pardini kündete zur Beruhigung seiner Klientel einen entsprechenden Vorstoss im Parlament an, der die Forderung der Initianten aufnehmen soll. Man darf gespannt sein, ob das der Fall sein wird und wie sich das Parlament dazu stellt. Auch die Politiker in den Verwaltungsräten der Bundesbetriebe könnten handeln: per Änderung der Verträge der Kadermitarbeiter mit überrissenen Löhnen.
- Transparenz in der Rechnungslegung: Die Initiative forderte Transparenz in der Rechnungslegung. Erst dann wird klar, wie unrentabel oder rentabel die Bereiche der Grundversorgung sind. Parlament und Bundesrat müssen dafür sorgen, dass die Bundesbetriebe ihre Ertragslage in den einzelnen Geschäftsfeldern endlich klar ausweisen.
- Stopp dem Abbau der Dienstleistungen: Der Kahlschlag bei den Poststellen ist zu stoppen, ebenso die Schalterschliessungen bei den SBB. Die SBB sollen angesichts ihrer stattlichen Gewinne auch die Streichung von Dienstleistungen wie etwa der Minibar wiedererwägen und auf Preiserhöhungen verzichten.
- Preisüberwacher Stefan Meierhans sagt: «Ich erwarte für und im Namen der Kundschaft der SBB, dass nicht Erlösmaximierung, sondern Nutzermaximierung im Zentrum steht.»
- Sollte das Streichkonzert bei den Poststellen und Bahnhöfen weitergehen, bieten saldo, «K-Tipp» und «Bon à Savoir» betroffenen Gemeinden Rechtsberatung an. Auch eine zweite Initiative ist nicht ausgeschlossen, wenn die Politiker den Abbau nicht stoppen.
Die Politiker beim Wort nehmen
Die Gegner der Initiative beteuerten, sie seien auch für einen starken Service public. Einige Beispiele:
- «Ich will natürlich auch eine stärkere Service-public-Leistung. Ich setze mich dafür ein, dass der öffentliche Verkehr nicht immer teurer wird.»
(Grüne Nationalrätin Regula Rytz, «Arena» 27.5.2016) - «Ich bin auch für den Service public. Die SP ist ja die Partei des Service public.»
(SP-Nationalrat Matthias Aebischer, «Tele Züri» 4.5.2016) - «Als Bergler will ich selbstverständlich einen starken Service public.»
(CVP-Nationalrat Martin Candinas, «Bündner Tagblatt» 18.5.2016) - «Wir wollen, dass die ganze Schweiz die Grundversorgung erhält, auch dort, wo wenig Menschen Zugang haben.»
(Bundesrätin Doris Leuthard, «Arena», 13.5.2016) - «Die Bevölkerung erwartet einen qualitativ guten Service public.»
(FDP-Präsidentin Petra Gössi, Abstimmungssonntag 5.6.2016) - «Die emotionale Debatte zeigt, dass den Menschen Qualität und Service wichtiger sind als Profit.»
(SP-Nationalrätin Edith Graf-Litscher, SP-Mediendienste vom 5.6.2016)