Es geschieht im Oktober 2013 in den Niederlanden. Die 33-jährige Aurélie Versluis tötet ihre Kinder Rosa und Lucas. Sie schneidet ihnen die Kehle durch. Die junge Mutter hat seit Monaten ein Antidepressivum mit dem Wirkstoff Paroxetin geschluckt. Doch sie verträgt es schlecht: Sie ist unruhig, kann kaum stillsitzen, fantasiert von Mord. Ihre Ärzte sahen aber keinen Grund, zu handeln. Der renommierte dänische Wissenschafter Peter C. Goetzsche war Gutachter in diesem Fall. Für ihn ist klar: «Hätte die Frau kein Paroxetin genommen, hätte sie ihre Kinder nicht getötet.»
Mit Antidepressiva ein Viertel mehr Straftaten
Das ist nur einer von vielen Fällen, in denen Menschen unter dem Einfluss von Antidepressiva eine Gewalttat verübten. Der irische Psychiater David Healy forscht seit Jahren zu diesem Thema. Er kam zum Schluss, dass die meisten Amoktäter an Schulen solche Medikamente schluckten.
Eine Studie der schwedischen Karolinska-Universität in Stockholm kommt nun zum Schluss:Antidepressiva können aggressiv machen und Gewalttaten fördern. Die Forscher werteten aus, wie oft 20 000 Straftäter erneut Verbrechen wie Körperverletzung, Brandstiftung oder Sexualstraftaten verübten. Nahmen die Verurteilten Antidepressiva, stieg die Zahl neuer Taten im Durchschnitt um 26 Prozent.
Schon frühere Untersuchungen zeigten, dass die Medikamente vor allem Kinder und junge Erwachsene aggressiv machen. 2016 analysierten Forscher der dänischen Universität von Kopenhagen 70 Studien mit über 18 000 Teilnehmern. Resultat: Bei Kindern und jungen Erwachsenen, die Psychopharmaka schluckten, war das Risiko, aggressiv zu werden, fast drei Mal so hoch wie bei Kindern und Jugendlichen, die kein Medikament nahmen. Die Wissenschafter führen dies auf Nebenwirkungen der Mittel zurück: Diese können die Patienten rastlos machen, Verwirrtheit und Alpträume verursachen. Betroffene berichten, dass sie sich selbst fremd seien, ohne Gefühle, ferngesteuert wie Roboter.Den forensischen Psychiater Andreas Frei aus Luzern erstaunen die Ergebnisse der Studie nicht: «Es ist schon länger bekannt, dass diese Medikamente bei jungen Leuten die Gefahr eines Suizids erhöhen.» Aggressivität und Suizid seien zwei Seiten der gleichen Medaille: Entweder richtet sich die Gewalt gegen andere oder gegen sich selbst.
Aggressives Verhalten als Nebenwirkung rufen vor allem die am häufigsten verschriebenen Antidepressiva vom Typ SSRI hervor. Dazu gehören Deroxat, Seropram oder Zoloft. Auch neuere Mittel wie Brintellix können aggressiv machen. Davor warnte die Weltgesundheitsorganisation im vergangenen Jahr.
Peter C. Goetzsche rät zu beobachten, ob sich Patienten plötzlich ungewöhnlich verhalten. Warnsignale sind Unruhe oder feindselige Gedanken. Kritisch sind vor allem die ersten Monate nach Beginn der Therapie oder eine Veränderung der Dosis. Der deutsche Arzt Wolfgang Becker-Brüser schreibt in der Fachzeitschrift «Arznei-Telegramm», dass Ärzte Patienten und Angehörige über das Risiko aggressiven Verhaltens aufklären sollten. Denn nicht immer findet man diese Information im Beipackzettel (siehe Tabelle im PDF).
In der Schweiz nimmt jeder Elfte solche Medikamente
In der Schweiz schluckt im Durchschnitt jeder Elfte Medikamente gegen Depressionen. Dies zeigt eine Studie der Uni Zürich von 2019. Dabei stehen die Medikamente seit Jahren in der Kritik, auch wegen teils schwerer Nebenwirkungen wie Schlaflosigkeit, Zittern, sexuelle Störungen, Übergewicht und Herzprobleme. Zudem nützen die Mittel wenig, wie 2019 eine Analyse des unabhängigen Forschernetzwerks Cochrane bestätigte: Sie schnitten kaum besser ab als Placebos. Fachleute empfehlen die Medikamente nur bei schweren Depressionen. Oft hilft eine Kombination aus Psychotherapie, Bewegung, Lichttherapie und anderen Methoden.
Laut Deroxat-Herstellerin Glaxo-Smith-Kline steht in der Packungsbeilage, dass das Mittel zu «Agitiertheit» führen könne. Somit werde korrekt auf die Nebenwirkung hingewiesen. Aggression könne ein Symptom der Krankheit sein. Lundbeck ist daran, die Packungsbeilage von Brintellix mit Angaben zum Auftreten von Aggression zu ergänzen. Eli Lilly schreibt, ein Zusammenhang von Fluctine und Aggression sei nicht bewiesen.
Merkblatt und Ratgeber
Weitere Informationen im kostenlosen Merkblatt «So können Sie Depressionen bekämpfen» und im Ratgeber «Das hilft bei Depressionen» (Fr. 27.–). Erhältlich über Gesundheitstipp.ch oder Gesundheitstipp, Postfach, 8024 Zürich