Der Luzerner Arzt A. L. erhielt vor kurzem ein E-Mail mit einem Link zu einer Internetumfrage über eine «aktuelle und internationale Studie zu Morbus Crohn». Absender: die Marketingfirma Eedo aus Göteborg, Schweden. L. soll seinen Praxisalltag und «vier Patientenfälle» schildern. «Aufwand: 30 Minuten», der Lohn fürs Ausfüllen: 100 Franken. Unklar ist, wer hinter der Studie steckt.
Ärzte sollen das jeweilige Medikament häufiger verschreiben
Verschiedene Medikamentenhersteller versuchen, Ärzte mit Pseudostudien zu ködern. In der Branche ist jeweils von «Praxiserfahrungsberichten» oder «Anwendungsbeobachtungen» die Rede. Stets geht es dabei ums Gleiche: Die Mediziner sollen berichten, wie Patienten ein Medikament vertragen. Manchmal sollen sie sie auch speziell dazu befragen.
Die Sprecherin des Basler Pharmakonzerns Roche, Ulrike Engels-Lange, begründet diese Praxis damit, dass solche Daten «einen wichtigen Beitrag zur Verbesserung der Therapieergebnisse und Patientensicherheit» bringen. Sie vermittelten beispielsweise «wichtige Erkenntnisse» zu Patientengruppen, Begleitmedikamenten oder unerwünschten Nebenwirkungen».
Anderer Meinung ist Thomas Rosemann, Professor für Hausarztmedizin an der Universität Zürich. Er spricht den Anwendungsbeobachtungen jeden wissenschaftlichen Wert ab: «Es handelt sich in der Regel um recht willkürliche Datensammlungen. Die Teilnehmer werden oft nicht sauber dokumentiert und es gibt keine Kontrollgruppe, die das Präparat nicht erhält.» Ausserdem seien Ärzte per Gesetz verpflichtet, Nebenwirkungen von Medikamenten den Behörden zu melden.
Für Margrit Kessler, Präsidentin der Schweizerischen Stiftung SPO Patientenschutz, sind Anwendungsbeobachtungen «ein Werbeinstrument der Pharmafirmen.» Ärzte bekämen so Anreize, mehr von diesen Präparaten zu verordnen.
Die Antikorruptionsorganisation Transparency International spricht von «legalisierter Korruption» und einer «Gefahr für Patientinnen und Patienten». Die Zuwendungen an die Ärzte könnten dazu führen, dass die Patienten nicht das für sie beste Medikament erhalten – sondern das für den Arzt lukrativste.
Deutschland: Roche und Novartis zahlten 160 Millionen Franken
Für die Schweiz gibt es keine Zahlen (siehe Unten). Klar ist: Die Schweizer Pharmakonzerne lassen sich die Aufmerksamkeit deutscher Mediziner einiges kosten. Das Berliner Recherchenetzwerk Correctiv veröffentlichte kürzlich Daten der deutschen Kassenärztlichen Bundesvereinigung: Novartis verteilte von 2009 bis 2014 rund 81 Millionen Franken an deutsche Ärzte, die bei Anwendungsbeobachtungen mitmachten. Roche schüttete im gleichen Zeitraum über 83 Millionen Franken aus. Nutzniesser waren Hunderte von Ärzten. Roche finanzierte etwa in Deutschland sieben verschiedene Anwendungsbeobachtungen zu seinem Hepatitis-C-Mittel Pegasys. Daran beteiligten sich 1300 Ärzte mit 20 000 Patienten. Die Ärzte erhielten pro Patient bis zu 1940 Franken.
Pseudostudien als beliebtes Mittel, wenn Konkurrenz droht
Der Hintergrund: Seit 2013 macht das Hepatitis-C-Mittel Sovaldi des US-Herstellers Gilead dem Roche-Medikament Pegasys Konkurrenz (saldo 2/15). Der Fall ist typisch: Laut einer Correctiv-Analyse beschäftigten sich 17 der 50 grössten Anwendungsbeobachtungen mit Analogpräparaten. Das sind Medikamente ohne Zusatznutzen für Patienten.
Nach Einschätzung von Medizinprofessor Rosemann reagieren Hersteller so auf neue Konkurrenz: «Auf diesem Weg können sie ihre Präparate bei den Ärzten in Erinnerung rufen.»
In Deutschland müssen Pharmafirmen die Zahlungen an Ärzte und Befragungen dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte sowie dem Paul-Ehrlich-Institut melden. Beide veröffentlichen die Daten. In der Schweiz herrscht weitgehend Intransparenz: Dient eine Umfrage angeblich Forschungszwecken, muss der Hersteller sie vorab einer Ethikkommission vorlegen. Die Ethikkommission Basel bewilligte seit 2014 vier solcher Anträge. Die Kommissionen in Zürich und Bern erhielten keine Anträge.
Beratungs- und Marketingfirmen setzen die «Studien» um
Bei Befragungen, die keinem wissenschaftlichen Plan folgen, fehlt jede Kontrolle. Die Zürcher Beratungsfirma Mediscope setzt «drei bis sechs» Aufträge pro Jahr um. Die Marketingagentur Doc World in Steinhausen ZG erledigt ebenfalls Aufträge. Der Basler Hersteller Mepha sammelte im Jahr 2014 Patientenstimmen zu seinem Nahrungsergänzungsmittel Bacto San, das die Darmaktivität fördern soll. Merck Schweiz sagt auf Anfrage, man habe in den letzten fünf Jahren drei Praxiserfahrungsberichte durchgeführt: Zwei Fälle betrafen MS-Patienten, einer Nebenwirkungen auf die Haut von Krebspatienten durch ein Merck-Präparat.
Die Hersteller benutzen die Resultate oft zu Werbezwecken. So lobt eine Basler Psychiaterin 2015 in einem wissenschaftlich gehaltenen Artikel der Fachzeitschrift «Ars Medici» das Antidepressivum Valdoxan des Herstellers Servier: Das Mittel helfe depressiven Patienten, besser zu schlafen, und reduziere «Traurigkeit» und «Konzentrationsschwierigkeiten».
Die angeblichen Vorzüge des Medikaments belegt sie unter anderem mit einem Schweizer Praxiserfahrungsbericht aus dem Jahr 2014, den sie selbst durchführte. Nicht im Artikel steht, dass das neue Antidepressivum doppelt so teuer ist wie gleichwertige Generika. Und, dass die Psychiaterin für eine «Beratertätigkeit» Geld von Servier bezog.
Vorgetäuschte Transparenz
Ein neuer Kodex verlangt von den Pharmakonzernen in der Schweiz, Geldgeschenke an Apotheker und Ärzte offenzulegen. Aber: Die Patienten erfahren trotzdem nicht, ob ihr Arzt Geld erhält. Die Regelung gilt ab Juli. Dann müssen die Medikamentenhersteller offenlegen, was sie im letzten Jahr an Honoraren, Spenden oder Forschungsgeldern an Ärzte, Apotheker und Spitäler zahlten. Doch der sogenannte Pharmakooperations-Kodex hat zwei Haken. Erstens handelt es sich um eine freiwillige Branchenübereinkunft. Sie gilt nur für jene 58 Firmen, die den Kodex unterzeichnet haben. Zweitens erlaubt der Kodex Geldempfängern, anonym zu bleiben. Pharmafirmen müssen dann nur bekannt geben,
wie viel Geld sie überwiesen haben – nicht aber an wen. Patienten erfahren nicht mit Sicherheit, ob ihr Arzt vom Hersteller fürs Verschreiben eines Medikaments Geld erhält. Anders in den USA:
Dort müssen seit 2013 alle Pharmafirmen sämtliche Informationen offenlegen.