Eine Pflegefachfrau eines Heims in der Nordwestschweiz sagt gegenüber saldo: Die Pflegedienstleiterin habe von ihr und den andern Mitarbeitern verlangt, den Pflegebedarf der Bewohner höher anzugeben, als dieser tatsächlich ist.
Der Grund: Je höher das Heim den Pflegebedarf gegenüber den Krankenkassen angibt, desto mehr Geld erhält es von ihnen. Die Heime legen den Pflegebedarf ihrer Bewohner selbst fest. Dazu müssen sie ein von den Kassen anerkanntes Einstufungssystem anwenden.
Beispiel: Eine Pflegerin beobachtet eine neue Bewohnerin sieben Tage lang und notiert, wie viel Hilfe sie beim Anziehen, Essen und Waschen braucht. Am Schluss gibt sie den Pflegebedarf in einer Skala von 1 bis 12 an. Bei der Pflegestufe 1 ist der Aufwand am geringsten, bei Stufe 12 am höchsten. Die Heime müssen die Pflegestufe alle sechs Monate überprüfen.
8000 Franken Mehreinnahmen pro Pflegestufe und Jahr
Ein Heim kann rund 8000 Franken pro Bewohner und Jahr zusätzlich einstreichen, wenn es eine höhere Pflegestufe angibt als nötig. Das ergibt sich aus den kantonalen Tarifordnungen. Beispiel Kanton Aargau: Der Unterschied pro Pflegestufe beträgt Fr. 21.10 pro Tag. Das macht im Jahr 7700 Franken. Bei 50 Bewohnern sind das 385 000 Franken. Je nach Kanton finanzieren Gemeinde und Kanton einen Teil dieser Ausgaben mit. Die Mehrkosten zahlen aber vor allem die Krankenkassen, sprich die Prämienzahler.
saldo wollte von 15 grossen Krankenkassen wissen, wie oft sie Pflegeeinstufungen von Heimen prüfen und Fehler entdecken. Die Sanitas kontrollierte laut eigenen Angaben im vergangenen Jahr 600 Einstufungen von insgesamt gut 8000 Heimbewohnern. Davon waren 330 Einstufungen zu hoch (siehe Grafik im PDF). Die Swica schaute sich rund 300 Dossiers von ingesamt rund 9000 Versicherten in Pflegeheimen näher an. Dabei stellte sie bei rund einem Sechstel der Fälle zu hohe Einstufungen fest. Die KPT checkt im Durchschnitt 500 Pflegedossiers pro Jahr. In jedem vierten finde sie zu hohe Einstufungen. Bei Stichproben der Concordia waren
41 Prozent der Pflegestufen zu hoch. Agrisano, Assura, Groupe Mutuel, Helsana, ÖKK, Sympany und Visana machten gegenüber saldo keine Angaben zu fehlerhaften Einstufungen.
Dazu kommt: Die Kassen kontrollieren in der Regel nur Papiere. Laut dem Heimverband Curaviva beschränken sich die Kassen meist darauf zu prüfen, ob die Pflegedokumentationen korrekt und nachvollziehbar seien. Der Verband führt die Fehleinstufungen «in erster Linie auf Mängel in der Dokumentation» zurück. Zudem fehlten Kontrollen in den Heimen.
Die Concordia nahm im vergangenen Jahr laut eigenen Angaben nur 38 Heimbesuche vor, die CSS rund 40. Alle Besuche waren angemeldet. Atupri, Sympany und die EGK verzichten auf Kontrollbesuche.
Auch die meisten Kantone tun wenig, um die Pflege in Heimen seriös zu überprüfen (saldo 14/2017). Eine Ausnahme ist der Kanton Basel-Stadt: Die Kontrolleure statten pro Jahr jedem vierten Heim im Kanton einen angekündigten Kontrollbesuch ab. Das wirkt: Nur 1 Prozent der überprüften Pflegeeinstufungen waren im vergangenen Jahr falsch. Vier Jahre zuvor waren es viermal so viel.
Tipps für Angehörige
Halten Angehörige von Heimbewohnern deren Einstufung beim Pflegeaufwand für falsch, können sie beim Heim Einsicht in die Unterlagen verlangen. Voraussetzung: Die betroffene Person muss damit einverstanden sein. Bei Ungereimtheiten sollte man mit der Krankenkasse Kontakt aufnehmen oder sich an eine Patientenstelle oder eine kantonale Beschwerdestelle für das Alter wenden.