Der Anruf beim Tierarzt ging an einem Sonntag vor rund drei Jahren ein. Ein Notfall. Das Pferd eines Kunden war verletzt. Eine Stunde später war der Arzt vor Ort und versorgte die Wunde des Pferds am linken Vorderbein. Sie stamme von einem Tritt eines anderen Pferds, vermutete der 70-jährige Kunde, der seit Jahrzehnten Pferde hält.
Danach nahm das Unheil seinen Lauf. «Das Pferd lief mittelgradig lahm», schildert der Pferdehalter den drei Richtern des Bezirksgerichts Weinfelden TG. Der Tierarzt habe gesagt, es könne sich um eine Muskelverletzung handeln, aber auch um eine Knochenverletzung. Sofort röntgen bringe aber nichts, weil man allfällige feine Haarrisse am Knochen erst später sehe.
In der Folge schonte der Pferdebetreuer die Franzosenstute. Das Tier lahmte auch noch Tage später. Dank Schmerzmitteln hatte sich aber der Gang des Pferds verbessert. Der Veterinär erlaubte zuerst das Reiten im Schritt. Zwei Wochen nach der Verletzung gab er das Springpferd für das normale Training frei – was sich als verhängnisvoll erwies.
Komplizierter Bruch beim Traben in der Halle
Beim Traben in der Halle habe es plötzlich «einen Knall gegeben», erzählt der Pferdebesitzer: Das linke Vorderbein war gebrochen. Die Notfalltierärztin stellte einen komplizierten Bruch mit geringen Heilungschancen fest. Sie riet zum Einschläfern, um dem zehnjährigen Pferd unnötiges Leiden zu ersparen. «Im besten Alter» sei es gewesen, sagt der Halter, es habe Aussicht auf Einsätze im Springsport «auf höchstem Niveau» gehabt.
Laut dem Anwalt des Klägers gestand der Tierarzt sein Versäumnis ein. Dieser habe dem Pferdehalter erklärt, es tue ihm leid, dass er das verletzte Bein nach zehn Tagen nicht geröntgt habe. Er melde den Schaden seiner Haftpflichtversicherung, der Mobiliar. Der Anwalt wirft dem Veterinär vor, er habe die ärztliche Sorgfaltspflicht verletzt, und fordert 1 Million Franken Schadenersatz. Das entspreche dem Marktwert des Pferds vor dem Beinbruch.
Der Anwalt des Tierarztes fordert eine Abweisung der Klage. Hintergrund: Die Mobiliar verweigert die Zahlung. Die erste Verletzung sei «relativ klein» gewesen, argumentiert der Anwalt. Es habe keine Hinweise auf einen Haarriss im Knochen, eine sogenannte Fissur, gegeben. Deshalb sei auch zehn Tage nach der Verletzung «keine Röntgenuntersuchung angezeigt» gewesen. Es liege weder eine Sorgfaltspflichtverletzung noch ein Behandlungsfehler vor. Zudem bestreitet der Anwalt, dass man einen Haarriss im Röntgenbild überhaupt hätte feststellen können. Und falls doch, sei damit noch keineswegs klar, dass der Beinbruch darauf zurückgehe.
Das Gericht bearbeitet den Fall gründlich. Ein Gutachter hält fest, es sei bei der ersten Verletzung «mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit» zu einem Haarriss am Knochen gekommen. Und: Der eingeklagte Tierarzt hätte rund zehn Tage nach dem Vorfall «eine Röntgenuntersuchung durchführen müssen». Die Chancen auf Heilung stuft der Experte bei korrekter Behandlung als gut ein. Der Beinbruch hätte aus seiner Sicht vermieden werden können.
Ein weiterer Experte schätzt den Marktwert des Pferds auf 500 000 Franken. Das Gericht lädt auch einen erfahrenen Pferdehändler vor, der die Stute und ihre sportlichen Erfolge kannte. Dieser findet, zum fraglichen Zeitpunkt wäre es durchaus möglich gewesen, das Tier für etwa 800 000 bis 1,2 Millionen Franken zu verkaufen.
Das Gericht fällt sein Urteil auf den Tag genau drei Jahre nach dem Tod des Pferds. Es heisst die Klage teilweise gut und spricht dem Pferdehalter 502 000 Franken Schadenersatz zu. Die Gerichtskosten von gut 20 000 Franken auferlegt es den Parteien je zur Hälfte. Der Tierarzt und seine Versicherung ziehen den Fall ans Thurgauer Obergericht weiter.
Tierärzte haften bei Fehldiagnosen und Kunstfehlern
Ein Tierarztmuss nach aktuellen tiermedizinischen Grundsätzen und im Interesse des Tierhalters und des Tiers handeln. Das bedeutet eine sorgfältige Diagnose sowie die Wahl und korrekte Durchführung der richtigen Behandlung. Bei Kunstfehlern, unentschuldbaren Irrtümern oder anderen Verstössen gegen die Sorgfaltspflicht haftet der Veterinär für den Schaden. Erfolg hat eine Klage auf Schadenersatz nur, wenn der Tierhalter die mangelnde Sorgfalt bei der Behandlung nachweisen kann.