Pensionskassen, Politiker und sämtliche Medien beten es wie ein Mantra runter: Die Schweizer leben immer länger, deshalb müssen die Pensionskassen die Renten immer länger zahlen. Die Kassen fordern deshalb von den heute Erwerbstätigen höhere Beiträge und wollen die Renten senken. Die vom Parlament Mitte März beschlossenen Änderungen gehen exakt in diese Richtung: Zwischen 35 und 54 Jahren steigen die Lohnabzüge für die 2. Säule, dafür gibts im Alter 12 Prozent weniger Rente aus der Pensionskasse.
Diese Verschlechterungen für die Versicherten entbehren einer realen Grundlage. Denn der 2. Säule geht es sehr gut – die Reserven sind auf Rekordhöhe: Ende 2015 beliefen sie sich auf 116,4 Milliarden Franken (saldo 4/2017).
Lebenserwartung praktisch stabil
Mit ein Grund für die hohen Reserven und Rückstellungen sind die Modelle, welche die Vorsorgeeinrichtungen für die Berechnung der künftigen Sterblichkeit verwenden. Sie orientieren sich dabei nicht an den tatsächlichen Sterbefällen in der Schweiz. Diese würden die Behauptungen der Pensionskassen widerlegen, dass die Schweizer immer älter werden. Das zeigen die aktuellsten Zahlen des Bundesamtes für Statistik: Die durchschnittliche Lebenserwartung für 65-jährige Frauen ist seit 2010 bei 22,2 Jahren stabil. Bei den gleichaltrigen Männern verflachte sich die Kurve und stieg in den letzten sechs Jahren nur noch von 18,9 auf 19,2 Jahre an (siehe Tabelle im PDF).
Doch von solchen Zahlen lassen sich die Pensionskassenberater nicht beeindrucken. Sie arbeiten lieber mit Prognosen, deren Richtigkeit heute nicht überprüfbar ist. Das sind in der Schweiz meist die Sterbetafeln BVG 2015. Diese basieren auf den beobachteten Sterblichkeitsraten der Periode 2010 bis 2014 von lediglich 15 der knapp 1800 Pensionskassen – darunter die Pensionskassen von Migros, Coop, SBB, Credit Suisse, UBS, Nestlé und ABB. Diese Kassen umfassen 1,4 Millionen aktiv Versicherte und 0,9 Millionen Rentner.
Es fehlen bei dieser engen Auswahl von Pensionskassen aber Unternehmen aus dem Bausektor oder anderen Branchen mit tiefen Löhnen. Es ist bekannt, dass Tieflöhner und weniger Gebildete früher sterben (saldo 12/2014).
Unterschiede gibt es auch bei den Prognosemodellen der Versicherungsmathematiker. Würde zum Beispiel das britische Prognosemodell auf die Daten von BVG 2015 angewendet statt das Schweizer Modell, würde eine deutlich tiefere Lebenserwartung resultieren: Ein 65-Jähriger lebt demnach 1,1 Jahre weniger lang, eine 65-Jährige 1,4 Jahre weniger lang.
«Britisches Modell führt zu präziseren Ergebnissen»
Die Fachzeitschrift «Schweizer Personalvorsorge» kommt aufgrund dieses Methodenvergleichs zum Schluss: «Die Langlebigkeit in der Schweiz wird nach aktuellen Modellen tendenziell überschätzt.» Autoren sind Geert Coene vom Beratungsunternehmen Aon Hewitt Schweiz und Martin Wagner, Geschäftsführer der Pensionskasse der Credit Suisse. Laut den Autoren führt das britische Modell zu «präziseren Ergebnissen». Grund: Es berücksichtigt bei den Annahmen über die künftige Sterblichkeit auch den Kohorteneffekt. Das heisst: Es kalkuliert Differenzen zwischen den Generationen mit ein, die sich auf unterschiedliche soziale und umweltbezogene Einflüsse zurückführen lassen. Wer zum Beispiel seine ersten Kinderjahre während des Zweiten Weltkriegs erlebte, wurde anders geprägt als ein Kind der Wirtschaftswunderjahre.
Der Schweizerische Pensionskassenverband will von einem Modellwechsel nichts wissen. Er hält sich an die Empfehlungen des Beratungsunternehmens Libera AG.
Für Reto Leibundgut, Pensionskassenexperte bei der St. Galler Beratungsfirma C-alm, läuft letztlich jedes Prognosemodell auf ein Kristallkugellesen hinaus. Leibundgut: «Welche Annahmen über die Lebenserwartung richtig gewesen sind, zeigt sich erst in der Zukunft.»