Viele Senioren leben trotz AHV- und Pensionskassenrente unter dem Existenzminimum. Deshalb haben sie Anspruch auf Ergänzungsleistungen. Besonders prekär ist die Situation für Menschen im Pflegeheim. Die monatlichen Kosten belaufen sich schnell einmal auf 10 000 Franken. Daran zahlen die Krankenkasse und der Wohnsitzkanton einen Teil – den Rest decken bei Mittellosen die Ergänzungsleistungen des Bundes.
Die Kosten für die Ergänzungsleistungen von AHV-Rentnern stiegen in den letzten 15 Jahren von 1,44 auf 2,71 Milliarden Franken. Die Zahl der Bezüger wuchs von 138 900 auf 192 900.
Eine der Ursachen für die zunehmende Altersarmut sind nach Meinung des Bundesrats die Vorbezüge aus der zweiten Säule (berufliche Vorsorge, BVG). Er behauptet: Wer sich selbständig macht und dafür Geld aus der Pensionskasse bezieht oder sich bei der Pensionierung das angesparte Kapital auszahlen lässt, habe ein höheres Risiko, später Ergänzungsleistungen zu beziehen. Deshalb will der Bundesrat die Möglichkeiten zum Vorbezug der obligatorischen beruflichen Vorsorge (versicherter Lohn bis 84 600 Franken) massiv einschränken.
Neu soll es Angestellten untersagt sein, bei der Aufnahme einer selbständigen Erwerbstätigkeit Geld aus der zweiten Säule zu beziehen. Für den Kapitalbezug bei der Pensionierung stellt der Bundesrat zwei Varianten zur Auswahl: Variante eins würde den Bezug ganz verbieten, Variante zwei auf die Hälfte der BVG-Gelder beschränken. Das heisst: Neurentner müssten mindestens die Hälfte ihres obligatorischen Guthabens in eine Rente umwandeln. Weiterhin erlaubt sein soll der Vorbezug für den Erwerb von selbstbewohntem Wohneigentum.
Bundesrat stützt sich auf eine Studie mit wenig Aussagewert
Bei ihren Vorschlägen stützt sich die Landesregierung vor allem auf eine Studie des Bundesamts für Sozialversicherungen. Von den Personen im AHV-Alter, die 2014 neu Ergänzungsleistungen erhielten, bezogen demnach früher knapp 33 Prozent in irgendeiner Form Kapital aus der zweiten Säule. 52 Prozent davon taten dies bei der Pensionierung, 13 Prozent wegen der Aufnahme einer selbständigen Erwerbstätigkeit. Der Mittelwert der Kapitalbezüge bei der Pensionierung beträgt 95 500 Franken, bei der Verselbständigung 50 000 Franken.
Doch diese Zahlen sind nicht viel wert. Für die Studie wurden nur gerade die Neuanmeldungen für Ergänzungsleistungen von März bis Mai 2014 in zehn Anlaufstellen für Ergänzungsleistungen erfasst und dann aufs ganze Jahr und die ganze Schweiz hochgerechnet. Insgesamt lagen der Studie 1763 genehmigte Anmeldungen für Ergänzungsleistungen zugrunde. Davon hatten rund 580 Personen aus der Pensionskasse Kapital bezogen – 300 bei der Pensionierung und 75 bei Aufnahme einer selbständigen Erwerbstätigkeit.
Und: Wer so wenig Kapital in der zweiten Säule gespart hat, wird wohl höchstwahrscheinlich früher oder später ohnehin zum Bezüger von Ergänzungsleistungen. Denn ein Kapital von
95 500 Franken ergäbe bei der Pensionierung eine Rente von rund 541 Franken pro Monat. Zusammen mit der AHV reicht das nicht fürs Existenzminimum.
Offen lässt die Studie zudem, wie viele Bezüger von Kapital aus der Pensionskasse zwecks Aufnahme einer selbständigen Erwerbstätigkeit später nicht auf Ergänzungsleistungen angewiesen sind.
Trotz dieser Mängel basieren die vom Bundesrat prognostizierten Einsparungen bei den Ergänzungsleistungen auf dieser Ministudie. Bei einem kompletten Wegfall des Kapitalbezugs bei der Pensionierung hätten demnach im letzten Jahr angeblich 10 Millionen Franken weniger Ergänzungsleistungen ausbezahlt werden müssen. Dazu kommen 2 Millionen Franken Einsparungen bei Streichung des Vorbezugs für Selbständige. Diese total 12 Millionen Franken machen nur gerade 0,44 Prozent der Ergänzungsleistungen für AHV-Rentner aus.
Kapitalbezugsverbote wirken sich auf die Steuereinnahmen aus
So gering die Einsparungen bei den Ergänzungsleistungen wären, so schön wären für Bund, Kantone und Gemeinden die steuerlichen Auswirkungen der Kapitalbezugsverbote. Das zeigt ein Vergleich der Steuerbelastung von Geldern der zweiten Säule bei Kapital- oder bei Rentenbezug. Im Auftrag von saldo berechnete das VZ Vermögenszentrum die Differenz für die Steuerzahler.
Das VZ rechnete konkret folgendes Beispiel durch: Ein verheirateter 65-jähriger Mann hat in seinem Erwerbsleben ein obligatorisches Pensionskassenvermögen von 350 000 Franken angehäuft. Das entspricht ungefähr dem Maximum im Obligatorium. Bei einem Umwandlungssatz von 6,8 Prozent beträgt die jährliche Rente 23 800 Franken. Diese Rente muss er als Einkommen versteuern. Bei einem mittleren Grenzsteuersatz von 20 Prozent kommen die jährlichen Steuern auf 4760 Franken zu stehen. Nach Steuerabzug verbleibt eine jährliche Rente von 19 040 Franken. Lebt der Mann nach der Pensionierung noch 20 Jahre, muss er dem Fiskus total 95 200 Franken abliefern (siehe Grafik).
Bezieht er bei der Pensionierung das ganze Kapital auf einmal, bezahlt er einmalig 7 Prozent Auszahlungssteuern (Mittelwert der 26 Kantonshauptorte). Das sind 24 500 Franken. In den Folgejahren muss der Pensionär nur die Zins- und Dividendenerträge auf seinen Wertschriftenanlagen als Einkommen versteuern. Die Berechnung geht von einer jährlichen Rendite von 3 Prozent aus, wovon 1,5 Prozent steuerbare Erträge sind. Ferner hat der Mann auf sein schrumpfendes Kapital Vermögenssteuern zu entrichten. Bei einer jährlichen Kapitalentnahme von 20 150 Franken vor Steuern ist das Vermögen nach 20 Jahren praktisch aufgebraucht. Die summierten Steuern belaufen sich auf 44 457 Franken.
«Steuererträge wurden nie erörtert und spielten keine Rolle»
Die Steuerdifferenz zwischen Kapitalbezug und Rentenauszahlung beträgt 50 743 Franken. Anders gesagt: Beim Kapitalbezug zahlt der Pensionär nicht einmal halb so viel Steuern wie bei der Rentenlösung. Das wäre langfristig bei jedem Pensionierten der Fall, wenn kein Kapitalvorbezug mehr möglich wäre.
Sind die Steuern vielleicht der wahre Grund für die vorgeschlagenen Einschränkungen beim Kapitalvorbezug? Colette Nova, Vizedirektorin des Bundesamts für Sozialversicherungen, verneint. Die Auswirkungen der Massnahmen auf die Steuererträge seien «nie untersucht und nie erörtert» worden. Bei der Beschlussfassung des Bundesrats hätten sie «überhaupt keine Rolle gespielt».
Würde der Kapitalbezug beschränkt oder aufgehoben, hätte das für die Versicherten der zweiten Säule neben der höheren Steuerbelastung noch einen weiteren grossen Nachteil. Die Pensionskassen kürzen nämlich seit Jahren die Renten, indem sie den Umwandlungssatz bei überobligatorisch Versicherten faktisch unter das gesetzliche Minimum senken.
Wer bei der Pensionierung das Kapital statt die Rente wählt, kann sich heute noch vor diesen Rentenkürzungen retten, weil das Altersguthaben dann nicht in eine Rente umgerechnet, sondern in voller Höhe ausbezahlt wird.