Extrem hohe Verwaltungskosten, immer tiefere Zinsen auf den Sparguthaben und immer kleinere Renten: Die seit 1985 obligatorische berufliche Altersvorsorge ist zum Sanierungsfall geworden. Der Zuger Rechtsanwalt Max Sidler hat jahrzehntelange Erfahrung im Haftpflicht- und Sozialversicherungsrecht. Er sagt: «Bei der Bevölkerung ist ein steigendes Unbehagen festzustellen.» Deshalb fordert er: «Die berufliche Vorsorge muss radikal vereinfacht und komplett umgebaut werden.»
Jedes Jahr sahnen Banken und Finanzberater Milliarden ab
Hintergrund: Von den Lohnabzügen der Angestellten für die Pensionskasse gehen 80 Prozent auf das Konto Altersguthaben. Rund 20 Prozent gehen in einen Topf, aus dem Invalidenrenten und Hinterlassenenleistungen für jene bezahlt werden, die vor der Pensionierung arbeitsunfähig werden oder sterben. Bei der Pensionierung sollte der Versicherte die einbezahlten Sparbeiträge plus den Zinsertrag als Kapital oder Rente ausbezahlt erhalten. So war das Gesetz gemeint, und so haben es die Politiker den Bürgern seinerzeit verkauft.
Gut 30 Jahre nach Einführung des Obligatoriums der 2. Säule müssen die Versicherten feststellen: Das heutige System mit 1700 Kassen ist kompliziert, ineffizient und sehr teuer. Sidler vergleicht die Vermögensverwaltungskosten mit denen der AHV: «Der AHV-Fonds hat Kosten von 0,2 Prozent des verwalteten Vermögens, bei Pensionskassen belaufen sich die Verwaltungskosten auf ein Mehrfaches.» Jährlich versickern so 4 bis 5 Milliarden Franken auf den Konten von Banken und Finanzberatern («K-Tipp» 13/2016).
Mit dem Geld der Versicherten verdienen die Kassen viel: Denn sie geben nur den kleineren Teil der mit dem Geld der Alterssparer erzielten Erträge an die Versicherten weiter. Mit dem grösseren Teil bauen sie riesige Reserven auf. Auf diese Gelder haben die einzelnen Sparer keinen Anspruch. Bis Ende 2017 äufneten die Pensionskassen und Versicherungen ein Polster von insgesamt 134 Milliarden Franken (saldo 9/2018). Während die Kassen jedes Jahr reicher werden, sinken die Renten der Versicherten.
Sidler arbeitete gleich einen Vorschlag für ein neues Pensionskassengesetz aus, den das Juristenmagazin «Plädoyer» in der Mai-Ausgabe publizierte. Für Sidler steht fest: «Wenn ein Angestellter obligatorisch verpflichtet ist, einen Teil seines Einkommens in eine staatliche Vorsorgeeinrichtung zu bezahlen, dann müssen seine Beiträge so sparsam wie möglich verwaltet und gewinnbringend angelegt werden.» So laute auch der Verfassungsauftrag.
In Norwegen verwaltet der Staatsfonds die Vorsorgegelder
Sidler will aus 1700 Pensionskassen eine einzige machen. Das gesamte Vermögen aller Kassen soll in einem einzigen Fonds angelegt werden. Andere Länder machen das mit Erfolg vor. Beispiel Norwegen: Dort verwaltet der norwegische Staatsfonds die Vorsorgegelder der Bevölkerung. Ein solcher Fonds kann weltweit langfristig in die verschiedensten Finanzprodukte investieren. Ein aktives Risikomanagement schützt vor allzu grossen Risiken und Verlusten.
Pro Jahr 3 Prozent mehr Rendite als heute möglich
Das zahlt sich aus: Während die Schweizer Pensionskassen im vergangenen Jahr im Durchschnitt eine Rendite von 8,1 Prozent erzielten (saldo 9/2018), erwirtschaftete der norwegische Staatsfonds im gleichen Jahr hohe 13,7 Prozent. Seit dem Jahr 2000 erzielten die Schweizer Pensionskassen jährlich durchschnittlich eine Rendite von 3,3 Prozent – der norwegische Staatsfonds hingegen 6,1 Prozent (siehe Grafik im PDF).
Bei der praktischen Umsetzung schwebt dem Zuger Experten das Schweizer Sparbüechliprinzip vor. So funktionierts:
Jeder Versicherte erhält bei Eintritt in die Pensionskasse ein individuelles Sparbuch mit eigenem Konto. Darauf zahlen der Versicherte und sein Arbeitgeber jeden Monat je zur Hälfte 7 Prozent des AHV-Lohns ein. Dazu kommen Jahr für Jahr alle mit dem Einheitsfonds erwirtschafteten Erträge – und nicht nur ein Teil wie heute. Sidler ist überzeugt, dass der Schweizer Fonds eine Rendite in der Grössenordnung der Norweger erreichen könnte. Der Anwalt rechnet vor: «Mit dem neuen Modell erhalten die Versicherten im Durchschnitt jedes Jahr 3 Prozent mehr Rendite – oder bis zu 30 Milliarden Franken mehr Geld auf ihre Konten.» Konkret heisst das: Jeder der vier Millionen Versicherten könnte pro Jahr 5900 bis 7300 Franken mehr bekommen.
Was so bis zur Pensionierung auf dem individuellen Sparbüchlein zusammenkommt, wird wie heute als Kapital ausbezahlt oder in eine Rente umgerechnet. Die Berechnungen von Sidler zeigen, dass der heute im Gesetz vorgeschriebene Umwandlungssatz von 6,8 Prozent realistisch ist. Für die ersten fünf Jahre ab Inkrafttreten des neuen Gesetzes darf er nicht geändert werden.
Eine Änderung des Umwandlungssatzes dürfte nur aufgrund der effektiven durchschnittlichen Sterblichkeit vorgenommen werden – und nicht wie heute nach politischen Kriterien. Sidler kritisiert: «Heute verwenden Pensionskassen und Lebensversicherer Tabellen mit viel zu hoher Lebenserwartung. Das führt zu überhöhten Rückstellungen und entsprechend tieferen Renten.»
Heute wird bei der beruflichen Vorsorge das Alterssparen mit einer Risikoversicherung für Todesfall und Invalidität kombiniert. Sidler schlägt eine vollständige Trennung von Sparteil und Versicherung vor. Laut seinem Vorschlag sollen die Versicherten in eine neue Zusatzversicherung monatlich Risikoprämien für den Todesfall und für Invalidität einzahlen. Der Grund für diese Trennung: «Heute versickern 30 bis 50 Prozent der eingezahlten Risikoprämien irgendwo im System, ohne je einen einzelnen leistungsberechtigten Invaliden oder Hinterlassenen zu erreichen.»
Reaktionen auf den Reformvorschlag
saldo hat den Reformvorschlag drei Sozialversicherungsexperten vorgelegt. Ihre Stellungnahmen:
Thomas Gächter: Für den Zürcher Rechtsprofessor ist ein BVG-Fonds vor allem «aus Kostengründen reizvoll». Auch ein individuelles Alterssparheft erachtet er als sinnvoll: «Diese Stärkung des ursprünglichen Gedankens der 2. Säule ist auf jeden Fall zu begrüssen.» Ebenso befürwortet Gächter die Trennung von Spar- und Versicherungsteil.
Ueli Kieser: Der St. Galler Rechtsprofessor hält nichts vom «Prinzip Alterssparheft» bei der beruflichen Vorsorge: «Mit einer solchen vollständigen Individualisierung der Altersvorsorge geht der Versicherungsgedanke verloren», kritisiert er. «Überzeugend» findet er hingegen die Trennung von Alterssparen und Risikoversicherungen.
Rudolf Rechsteiner: Der frühere SP-Nationalrat ist skeptisch, was den Einheitsfonds anbelangt. «Heute bestimmt nicht ein einziges Gremium über die Kapitalanlagen, sondern es werden dezentral vielfältige Entscheide getroffen.»
«Berufliche Altersvorsorge: Vorschlag für eine Totalrevision des BVG»,
32 Seiten, «Plädoyer»-Dossier, für 10 Franken zu beziehen bei «Plädoyer», Postfach 431, 8024 Zürich, Tel. 044 253 83 40 oder www.plaedoyer.ch