Alles begann mit einer netten nachbarschaftlichen Geste. Im Herbst 2017 lieh sich eine alleinerziehende Mutter aus dem Aargau den VW Golf ihrer 66 Jahre alten Nachbarin. Sie fuhr damit nach Norddeutschland. Zum versprochenen Zeitpunkt war sie nicht zurück. Grund war ein Auffahrunfall. Die junge Frau stiess mit dem Golf auf der Autobahn ins Heck des vor ihr fahrenden Wagens. Sie versprach, für die Reparaturkosten von 4500 Franken aufzukommen. Doch sie tat es nicht. Schliesslich reichte die Autohalterin Klage ein, um zum Geld zu kommen.
Zur Verhandlung am Bezirksgericht Brugg AG erscheint die Klägerin mit ihrer Anwältin. Der Stuhl auf der Gegenseite für die beklagte Partei bleibt leer. Die Einzelrichterin erklärt: «Die Beklagte hat heute Morgen ein Arztzeugnis geschickt und mitgeteilt, sie sei arbeitsunfähig.» Das Gericht habe nähere Informationen angefordert. Eine blosse Arbeitsunfähigkeit bedeute nämlich nicht automatisch, dass jemand nicht an einer Gerichtsverhandlung teilnehmen könne.
Die Klägerin seufzt: «Schon wieder!» Nach dem Autounfall habe sie mit der jungen Mutter mehrfach einen Termin abgemacht, um eine gütliche Einigung zu finden. Über 4500 Franken musste sie der Garage für die Reparatur des VW Golf hinblättern, der erst ein Jahr alt war. «Ich hätte auch Ratenzahlungen akzeptiert», sagt die Rentnerin. «Sie hat nicht viel Geld.» Doch die Frau habe sie immer wieder hingehalten oder Termine im letzten Moment abgesagt.
Schliesslich verlor die Autohalterin die Geduld und forderte das Geld per Betreibung ein. Die junge Mutter erhob daraufhin Rechtsvorschlag und stoppte damit die Betreibung. Doch die Rentnerin zog die Sache weiter. Auch dem Termin beim Friedensrichter blieb die Unfallverursacherin fern. Daraufhin erhielt die Rentnerin die Klagebewilligung. Doch jetzt gerät der Fall erneut ins Stocken. Die Einzelrichterin bricht die Verhandlung ab, weil das Arztzeugnis der Beklagten nicht über alle Zweifel erhaben ist.
Das Urteil fällt erst im zweiten Anlauf
Danach verstreichen drei Monate bis zu einem neuen Gerichtstermin. Dann erscheint die Beklagte. Die Vorladung musste durch die Polizei zugestellt werden, weil die Frau die Sendung bei der Post nicht abholte. Die Richterin erklärt zu Beginn der Verhandlung: «Die Beklagte hat nachträglich ein ausreichendes Arztzeugnis vorgelegt.» Deshalb musste das Gericht nochmals eine Verhandlung ansetzen. Sonst wäre allein aufgrund der Angaben der Klägerin und der Akten entschieden worden.
Die junge Mutter appelliert ans Mitleid. Sie sei alleinerziehend, lebe von der Sozialhilfe. «Ich habe angeboten, das Auto durch meinen Bruder reparieren zu lassen», sagt sie. «Er ist Automechaniker.» Die Rentnerin habe davon aber nichts wissen wollen.
Für die Anwältin der Klägerin ist der Fall klar. Ein Polizeirapport zeige, dass die Frau für den Schaden am VW Golf verantwortlich sei. Deshalb müsse sie zahlen. Der Bruder der Beklagten möge zwar Automechaniker sein, doch ihre Mandantin habe das Recht, für die Reparatur «einen Garagisten ihres Vertrauens zu wählen». Trotz mehrfachem Entgegenkommen habe die Beklagte nie reagiert: «Sie hat meine Klientin immer wieder hingehalten.» Diese sei deshalb zu keinem Vergleich mehr bereit.
Nach 25 Minuten ist die Verhandlung beendet. Das Gericht verschickt das schriftliche Urteil wenig später. Es verpflichtet die junge Mutter, die Reparaturkosten von 4500 Franken zu zahlen. Es sei klar erwiesen, dass sie den Schaden verursacht habe. Zudem muss sie die Gerichtskosten von 1050 Franken und die Anwaltskosten von 2300 Franken übernehmen.
Abwesenheit verhindert kein Urteil
Im Zivilprozess müssen Kläger und Beklagte in der Regel an den Verhandlungen nicht persönlich anwesend sein. Sie können sich auch vertreten lassen – etwa durch einen Anwalt oder eine Anwältin. Fehlt eine Partei unentschuldigt und erscheint auch keine Vertretung, führt das Gericht die Verhandlung trotzdem durch. Es fällt das Urteil dann aufgrund der Aussagen der anwesenden Partei und der vorliegenden Akten.
Die Abwesenheit gilt als entschuldigt, wenn jemand verhandlungsunfähig ist. Das muss mit einem Arztzeugnis belegt werden.