Neues Medikament, alte Wirkung: Eine Goldgrube
Mit angeblich neuen Medikamenten verdient die Pharmaindustrie sehr viel Geld. Den Preis für die Scheininnovationen zahlen die Patienten.
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saldo 3/2004
18.02.2004
Marianne Kägi, Daniel Mennig
Rund 6 Milliarden Franken Reingewinn hat der Pharmariese Novartis im letzten Jahr ausgewiesen, 3 Milliarden Franken Roche. Die Pharmaindustrie verdient exorbitante Summen mit ihren Medikamenten. Ständig wirft sie neue Arzneimittel auf den Markt mit der Begründung, sie seien wirksamer und besser als die alten Präparate.
Hinter die Versprechungen der Pharmawerbung setzt Enea Martinelli, Präsident der Schweizer Spitalapotheker, ein dickes Fragezeichen: «Praktisch jeden Monat pr...
Rund 6 Milliarden Franken Reingewinn hat der Pharmariese Novartis im letzten Jahr ausgewiesen, 3 Milliarden Franken Roche. Die Pharmaindustrie verdient exorbitante Summen mit ihren Medikamenten. Ständig wirft sie neue Arzneimittel auf den Markt mit der Begründung, sie seien wirksamer und besser als die alten Präparate.
Hinter die Versprechungen der Pharmawerbung setzt Enea Martinelli, Präsident der Schweizer Spitalapotheker, ein dickes Fragezeichen: «Praktisch jeden Monat prüfen wir neue Medikamente, um festzustellen: Ist es wirklich etwas Neues oder scheint es nur, als sei es etwas Neues?» Oder anders ausgedrückt: Handelt es sich um eine Scheininnovation - also einen neuen Wirkstoff, der laut dem Bremer Pharmakologieprofessor Peter S. Schönhöfer «nicht mehr bringt als die alte, traditio-nelle Behandlung, welche die Werbung entweder als besser verträglich oder angenehmer zum Einnehmen propagiert».
Neues Medikament kurz vor Ablauf des Patents lanciert
Ein Beispiel: das Antidepressivum Seropram - jahrelang ein Kassenschlager der Firma Lundbeck. Kurz nach Ablauf des Patents für das Präparat brachte das gleiche Unternehmen ein neues Medikament namens Cipralex auf den Markt und liess es patentieren.
Den Unterschied zwischen den beiden Medikamenten erklärt Bernhard H. Lauterburg, Professor für klinische Pharmakologie an der Universität Bern, indem er die beiden Medikamente mit einem Paar Handschuhe vergleicht: «Seropram, das alte, hat den linken und den rechten Handschuh. Cipralex, das neue, hat nur den linken Handschuh.» Der linke Handschuh sei viel wirksamer als der rechte. Darum könne man auch nur die Hälfte der Dosis verabreichen. «Klinisch gesehen besteht kein grosser Unterschied zwischen den beiden.»
Abwehrstrategie gegen billige Generika
Der Hersteller, die dänische Firma Lundbeck, hält dem entgegen: «Cipralex hat eine stärkere antidepressive Wirkung, eine raschere Wirksamkeit und eine sehr gute Verträglichkeit.»
Stark wirkt sich das neue Medikament insbesondere wirtschaftlich aus: Der Umsatz von Cipralex legte im letzten Jahr um sagenhafte 645 Prozent zu. Als neues Medikament steht Cipralex für 15 Jahre unter Patentschutz. Für das alte Medikament, dessen Schutz abgelaufen ist, gibt es mittlerweile ein preiswertes Generikum. Eine Tagesdosis des neuen Medikaments kostet Fr. 2.69, das Seropram-Generikum Citalopram Ecosol ist 89 Rappen billiger.
Ein weiteres Beispiel: Antra und Antramups von Astra Zeneca, einst das Mittel gegen Magenschmerzen schlechthin. Kurz vor Ablauf des Patentschutzes für den Wirkstoff Antra hat der Hersteller das neue Medikament Nexium auf den Markt gebracht. Doch das «neue» Medikament enthält denselben Wirkstoff wie das alte. «Bei der Wirksamkeit gibt es klinisch keinen wesentlichen Unterschied zwischen Antramups und Nexium», erklärt Bernhard H. Lauterburg.
Hersteller Astra Zeneca wehrt sich: «Nexium zeigt als erster Protonenpumpenblocker eine schnellere und stärkere Wirkung bei Magenbrennen als der bisherige Standard Antramups.»
Doch vor allem ist Nexium ein gutes Geschäft für den britisch-schwedischen Konzern: Der Umsatz von Nexium stieg in einem Jahr um 76 Prozent auf 34 Millionen Franken. Eine Tagesdosis kostet Fr. 3.61, das Antramups-Generikum Omed ist Fr. 1.58 billiger.
Fortschritte vor allem in der Krebs- und Aidstherapie
Zwei Beispiele aus der Pharmabranche, die nach den Worten von Pharmakologiepro-fessor Schönhöfer System haben: «In der Regel sind die neuen Wirkstoffe der Pharmaindustrie Scheininnovationen.» Echte Neuentwicklungen seien selten. Seit 1990 habe die Pharmaindustrie rund 400 neue Stoffe auf den Markt gebracht, davon anerkennt Schönhöfer aber nur sieben als echte Innovationen. Fortschritte habe es etwa in der Krebs- und Aidstherapie gegeben. Viele andere Neuentwicklungen würden dem Patienten aber keinen Vorteil bringen.
Nicht alle Wissenschafter urteilen so radikal wie Schönhöfer, obwohl viele Beispiele seine Überzeugung untermauern. Den Vorwurf, die Pharmaindustrie wolle mit Scheininnovationen vor allem mehr Geld verdienen, will die Branche nicht auf sich sitzen lassen. Thomas Cueni von Interpharma: «Das ist eine Verkennung des Wesens der Pharmaforschung. Ohne schrittweise Innovation, ohne schrittweisen Fortschritt wäre die moderne Medizin nicht denkbar.»
Kleine Schritte, die sich die Konzerne teuer bezahlen lassen. Ein weiteres Beispiel:
Lasix, ein harntreibendes Mittel, das sich jahrelang auf dem Markt bewährt hat. Letztes Jahr ist sein Umsatz jedoch auf 4 Millionen Franken gesunken. Der Grund: Roche vertreibt Torem, ein anderes harntreibendes Mittel - es machte letztes Jahr 22 Millionen Franken Umsatz. Die jährliche Wachstumsrate: 30 Prozent. Eine Behandlung mit Torem kostet mehr als doppelt so viel wie eine mit Lasix: Die Tagesdosis des alten Medikaments beläuft sich auf Fr. -.42, jene von Torem auf Fr. 1.10. Dazu Schönhöfer: «Der Hersteller behauptet, dass Torem als Tablette besser resorbiert wird. Das ist aber ein Scheinargument.» Denn dosiere man Lasix hoch genug, habe man denselben Effekt zu einem wesentlich günstigeren Preis.
250 Millionen Franken unnötige Kosten pro Jahr
Roche wehrt sich: «Torem muss man nur einmal täglich einnehmen. Zudem können Patienten mit Torem länger und besser leben.»
Die Medikamentenkosten stiegen in den letzten Jahren rasant an. Mitverantwortlich sind laut Gesundheitsökonom Willy Oggier die neuen Medikamente, die für den Patienten kaum einen Zusatznutzen bringen: «Wenn man von ausländischen Erfahrungen ausgeht, dann dürften für die Schweiz durch Scheininnovationen etwa 250 Millionen Franken pro Jahr an unnötigen Kosten entstehen.»
«Wir haben nicht ein Mengen-, sondern ein Preisproblem»
Und Preisüberwacher Werner Marti doppelt nach: «Wir haben im Medikamentensektor nicht ein Mengen-, sondern ein Preisproblem. Das heisst, wir konsumieren nicht mehr Medikamente als früher, sondern teurere.» Und da tragen nach Martis Ansicht Scheininnovationen auch ihren Teil bei.
Der Weg bis zur Zulassung
Will eine Firma ein rezeptpflichtiges Medikament auf den Schweizer Markt bringen, muss sie bei der Eidgenössischen Arzneimittelkommission (EAK) ein Gesuch einreichen. Die Kommission setzt sich hauptsächlich zusammen aus Vertretern von Ärzten, Apothekern, Versicherungen und der Pharmaindustrie. Die EAK prüft unter anderem, ob das neue Medikament wirksam, wirtschaftlich sowie zweckmässig ist und diskutiert auch einen Preis aus. Auf Antrag der Arzneimittelkommission fällt das Bundesamt für Gesundheit den definitiven Entscheid über Zulassung und Preis des neuen Medikaments.