Brigitte Widmer ist unzufrieden. Sie fühlt sich schwach. «Alle Muskeln schmerzen. Es ist wie Muskelkater», sagt die 66-Jährige aus Altstätten SG. Zudem schwitzt sie seit April so stark, dass sie regelmässig «pudelnass» ist.
Damals bekam sie vom Arzt ein neues Medikament gegen Diabetes und ein anderes Insulin. Mit den bisherigen Medikamenten war ihr Blutzucker oft zu hoch. Das neue Medikament ist seit einem Jahr zugelassen und heisst Forxiga. «Der Arzt sagte, er kenne es noch nicht gut, aber es sei einen Versuch wert», sagt Widmer.
Forxiga gehört zu einer neuen Klasse von Diabetes-Medikamenten, den Gliflozinen. Auch die Mittel Invokana und Jardiance gehören dazu. Alle drei sind umstritten. Etzel Gysling, Herausgeber der Fachzeitschrift «Pharma-Kritik» und Hausarzt in Wil SG, beurteilt den Nutzen der Gliflozine «sehr zurückhaltend». Ihre Wirkung auf den Blutzucker sei «bescheiden». Die wichtigste Aufgabe von Diabetes-Medikamenten sei der Schutz vor Langzeitfolgen wie Herzinfarkt oder Augenschäden. «Doch dafür gibt es bei diesen Mitteln keinen Nachweis» («Gesundheitstipp» 4/15).
Jetzt zeigt sich zudem: Die Mittel können eine gefährlich Übersäuerung des Körpers auslösen. Dabei erzeugt die Leber grosse Mengen an Säure. Erkennt der Patient dies nicht rechtzeitig, wird er ohnmächtig; ohne Behandlung stirbt er. In einer Mitteilung warnt die amerikanische Medikamentenbehörde FDA vor dem neu entdeckten Risiko.
Schweiz: Warnung vor neuem Risiko fehlt
Die Anzeichen für eine Übersäuerung sind vielfältig: Atembeschwerden, Übelkeit, Bauchschmerzen, Durst oder Schwäche. Die FDA rät Patienten, bei solchen Symptomen «sofort» einen Arzt zu kontaktieren.
Innerhalb gut eines Jahres waren laut FDA in den USA 20 Patienten, die Gliflozine nahmen, betroffen. In der Datenbank der europäischen Medikamentenbehörde finden sich 84 Verdachtsfälle. In der Schweiz sei noch kein Fall gemeldet worden, sagt Swissmedic, die Schweizer Zulassungs- und Kontrollbehörde für Heilmittel.
Offiziell erfahren Patienten und Ärzte in der Schweiz nichts vom neuen Risiko: Weder in den Beipackzetteln noch in der Fachinformation ist es aufgeführt. «Swissmedic sollte dafür sorgen, dass die Dokumente angepasst werden», fordert Gysling. Swissmedic sagt, man sei mit den Herstellern in Kontakt.
Für Gysling bestätigt die FDA-Warnung, «dass wir von diesen neuen Medikamenten zu wenig wissen.» Anders beim Diabetes-Mittel Metformin. Diesen Wirkstoff gibt es seit über fünfzig Jahren. Studien haben längst belegt, dass er auch vor Folgeschäden schützt – und kaum Unterzucker verursacht. Für Metformin spricht auch der Preis: rund 15 Franken pro Monat. Gliflozine kosten um die 65 Franken.
Hersteller analysieren gemeldete Fälle
Janssen-Cilag schreibt, ihr Mittel Invokana habe in Studien den Blutzucker gleich gut oder besser gesenkt als bewährte Mittel. Boehringer Ingelheim teilt mit, dass zurzeit eine Studie mit Jardiance laufe, die den Einfluss auf das Herzinfarkt- und Schlaganfallrisiko untersuche. Beide Firmen schreiben, man könne ihr Medikament nicht direkt mit Metformin vergleichen: Die Gliflozine seien für Patienten gedacht, bei denen Metformin alleine ungenügend wirkt oder die es nicht vertragen.
Alle drei Gliflozine-Hersteller beteuern, man analysiere alle gemeldeten Fälle von Übersäuerung. Zur Patientin Brigitte Widmer schreibt AstraZeneca: «Muskelschmerzen, Schwäche und Antriebslosigkeit sind keine bekannten unerwünschten Wirkungen von Forxiga.»