Neuer Absatzmarkt für Ritalin
Mit Ritalin behandelte man bisher hypernervöse Kinder. Nun wird das Medikament immer häufiger bei Erwachsenen eingesetzt. Experten halten nichts davon.
Inhalt
saldo 8/2006
26.04.2006
Letzte Aktualisierung:
22.03.2012
Silvia Baumgartner
Es gibt eine Selbsthilfegruppe für Erwachsene mit ADS, ADS-Sprechstunden und eine Schweizerische Gesellschaft für ADS: Die drei Buchstaben stehen für «Aufmerksamkeits-Defizit-Störung» und finden sich derzeit häufig in den Medien.
Die TV-Sendung «Quer» widmete dem Thema ADS bei Erwachsenen im Januar eine Sendung. Das dabei ausgestrahlte Porträt einer Frau war eindrücklich. Sie ist getrieben von einer inneren ...
Es gibt eine Selbsthilfegruppe für Erwachsene mit ADS, ADS-Sprechstunden und eine Schweizerische Gesellschaft für ADS: Die drei Buchstaben stehen für «Aufmerksamkeits-Defizit-Störung» und finden sich derzeit häufig in den Medien.
Die TV-Sendung «Quer» widmete dem Thema ADS bei Erwachsenen im Januar eine Sendung. Das dabei ausgestrahlte Porträt einer Frau war eindrücklich. Sie ist getrieben von einer inneren Unruhe, versucht oft mehrere Dinge gleichzeitig zu tun und scheitert dabei. Misserfolge im Beruf waren die Folge. Als Kind wurde sie als verhaltensgestört und zurückgeblieben in die Sonderschule abgeschoben. Erst ein Aufenthalt in der Psychiatrie löste das Rätsel: Sie leide unter ADS, so die behandelnden Ärzte.
Betroffene können weder planen noch organisieren
Vier Prozent der erwachsenen Bevölkerung seien von ADS betroffen, sagt die Zürcher Psychiaterin Dominique Eich-Höchli. Auch sie trat in der Sendung auf. Sie leitet an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich eine Sprechstunde für Erwachsene mitADS.
ADS-Betroffene sind laut Eich-Höchli ruhelos, oft Workaholics, können sich nicht entspannen, verhalten sich impulsiv und reden im Schwall. Es gelingt ihnen nicht, etwas zu planen oder zu organisieren. Sie können sich nur mit Mühe auf eine Aufgabe konzentrieren. Liest man diese Symptome, glaubt wohl jeder, jemanden zu kennen, der unter ADS leiden könnte.
«Ein neues Syndrom schafft neue Klienten»
Die Diagnose ADS bei Erwachsenen ist allerdings nur in Amerika anerkannt. Die Weltgesundheitsorganisation WHO kennt sie in ihrem Diagnosesystem nicht. Und: Sie ist in der medizinischen Fachwelt heftig umstritten. Thomas Pichert, Psychiater in Zürich, spricht Klartext: «Die Kriterien zur Diagnose von ADS im Erwachsenenalter sind völlig unspezifisch.» Dass sie in das amerikanische Diagnosen-Manual aufgenommen worden sei, sage mehr aus über die berufspolitischen Interessen der offiziellen US-Psychiatrie, als dass es das Verständnis psychischer Störungen erweitere, glaubt Pichert. Für ihn ist klar: «Ein weiteres neues Syndrom schafft neue Klienten und Medikamentenabsatzmöglichkeiten.»
Tatsächlich: Die Verkaufszahlen von Methylphenidat - aus diesem Wirkstoff werden die ADS-Medikamente Ritalin und Concerta hergestellt - zeigen steil nach oben: 1998 registrierte Swissmedic noch 23,2 Kilogramm verkauftes Methylphenidat. 2004 waren es bereits 110 Kilogramm - über viermal mehr.
Dominique Eich-Höchli befürwortet die Behandlung von Erwachsenen mit Methylphenidat: «Der Einsatz der Medikamente kann nach genauer Abklärung und als Teil einer umfassenden Therapie auch bei Erwachsenen sinnvoll sein.» Dabei hat die Heilmittelbehörde Swissmedic den Wirkstoff Methylphenidat zur Behandlung von ADS bei Erwachsenen gar nicht zugelassen. «Nur wenn eine ADS-Behandlung im Kindesalter beginnt und über die Pubertät hinaus erfolgt, hat der Stoff die Zulassung», erklärt Monique Helfer von der Heilmittelbehörde. Für eine erstmalige Anwendung des Medikaments bei ADS im Erwachsenenalter lägen keine Daten vor. Verschreibt es der Arzt in einem solchen Fall trotzdem, tut er es in eigener Verantwortung.
Herzspezialisten verlangen Warnung auf Beipackzettel
Ob in der Schweiz wirklich immer mehr Erwachsene Ritalin oder Concerta schlucken, ist in neuster Zeit nicht untersucht worden. Obwohl die Daten für eine Analyse verfügbar wären. Denn Methylphenidat gehört zur Gruppe der Amphetamine, einer synthetisch hergestellten psychoaktiven Substanz. Sie unterliegt dem Betäubungsmittelgesetz und damit einer verschärften Kontrolle.
Doch das Bundesamt für Gesundheit (BAG) sieht sich für eine solche Analyse nicht zuständig. Das sei Sache der Kantone. Gründe für eine Analyse gäbe es aber sehr wohl: Der Einsatz von Methylphenidat ist umstritten. Erst recht, seit amerikanische Kardiologen Anfang Februar Alarm schlugen. Sie meldeten 25 plötzliche Todesfälle unter Einnahme von Methylphenidat oder anderen Amphetaminen sowie 54 weitere Herzfunktionsstörungen, die nicht tödlich verliefen. Die Herzspezialisten verlangen deshalb von der US-Zulassungsbehörde einen umrahmten Warnhinweis zu Beginn der Fachinformation in jeder Packung. Solche Warnungen werden nur bei schwerwiegenden Risiken verlangt.
Auch Swissmedic zeigt sich besorgt über die Meldungen aus den USA: «Bezüglich der Todesfälle unter Methylphenidat sind die betroffenen Firmen zu Stellungnahmen aufgefordert worden.» Swissmedic überprüfe alle Informationen zu plötzlichen Todesfällen bei Menschen, die Methylphenidat einnahmen. Monique Helfer: «Falls wir neue Risiken feststellen, werden wir die notwendigen Massnahmen ergreifen.»
Novartis sieht keinerlei erhöhtes Risiko
Ritalin-Hersteller Novartis aber winkt ab. In der globalen Ritalin-Datenbank, welche seit über 50 Jahren geführt werde, gebe es bei einem sachgerechten Einsatz des Medikaments im zugelassenen Indikationsbereich keinerlei Risiken für eine erhöhte Anzahl von schweren Blutkreislauf-Ereignissen verglichen mit der Normalbevölkerung.