Am 1. Juni 2016 wird der 57 Kilometer lange Gotthard-Basistunnel eröffnet. Für die ersten beiden Züge verlost der Bund 1000 Gratisbillette. Als Dank an die Bevölkerung, sagt Bundesrätin Doris Leuthard. Denn diese habe an der Urne die Neue Eisenbahn-Alpentransversale (Neat) mit dem Gotthard-Basistunnel möglich gemacht.
Die Stimmbürger hätten vielleicht anders entschieden, wenn sie gewusst hätten, wie wenig von den Versprechen des Bundesrats zu halten ist – und wie teuer das Bauwerk wird. Im Neat-Abstimmungsbüchlein vom 27. September 1992 heisst es: «Mit der Neat kann der gesamte künftig auf unsere Nord- und Südgrenzen zurollende Gütertransitverkehr von der Bahn bewältigt werden.» Und das Bauwerk verhindere, dass die Schweiz «durch 40-Tonnen-Brummer überrollt» werde. Die gesamten Kosten bezifferte der Bundesrat auf 14,9 Milliarden Franken. Von Zürich aus werde Mailand «in gut 2 Stunden» erreichbar sein.
Verlagerungsziel ist mit Neat nicht erreichbar
Inzwischen ist klar: Die Neat kostet 23 Milliarden Franken. Damit lässt sich das gesetzlich verankerte Güter-Verlagerungsziel von der Strasse auf die Bahn nicht erreichen. Seit 2005 rollen zudem 40-Tonnen-Lastwagen durch die Schweiz.
Und was ist mit der schnellen Verbindung Zürich–Mailand für den Personenverkehr? 1998 konnte das Volk im Rahmen der Abstimmung über die Finanzierung des öffentlichen Verkehrs indirekt nochmals über ein inzwischen verkleinertes Neat-Projekt entscheiden. Schon damals war den Bahnverantwortlichen klar, dass sich wegen der Abstriche die Fahrzeit nicht unter zweieinhalb Stunden senken lässt.
Auch dieses Ziel wird klar verfehlt. Wegen drohender Kostenüberschreitungen bei der Neat pochten das Bundesamt für Verkehr und die SBB darauf, den Bau des Zimmerbergtunnels II auf unbestimmte Zeit zu verschieben. 2008 hiess das Parlament dieses Vorgehen gut. Dadurch gehen auf der neuen Gotthardstrecke entscheidende Minuten verloren. Der Verzicht der SBB auf Neigezüge kostet weitere Minuten.
Zürich–Mailand: Der Zeitgewinn ist gering
Wenn am 11. Dezember der fahrplanmässige Betrieb durch den neuen Gotthardtunnel beginnt, beträgt die Fahrzeit zwischen Zürich und Mailand 3 Stunden 30 Minuten. Das ist gegenüber dem Fahrplan, der bis Juni 2014 galt – vor der künstlichen Fahrzeitverlängerung wegen pannenanfälliger Pendolino-Züge –, ein Zeitgewinn von gerade 11 Minuten. Auch nach der Inbetriebnahme des Ceneri-Basistunnels im Jahr 2020 wird die Fahrzeit – gemäss SBB-Fahrplanentwurf – nicht unter 2 Stunden 58 Minuten sinken.
Neat-Billett: Vielleicht wird ein Zuschlag fällig
Der unabhängige Fahrplanexperte Werner Stohler aus Zug ist sicher, dass «am falschen Ort gespart» wurde. Ohne Verzicht auf Zimmerbergtunnel und Neigezüge wäre eine Fahrzeit von 2 Stunden 40 Minuten machbar. Die längere Fahrzeit dämpfe die Nachfrage. Eine Faustregel besage: Eine um 1 Prozent kürzere Reisezeit generiere 1 Prozent mehr Fahrgäste.
Bei den Passagierzahlen haben die SBB Nachholbedarf. Laut Stohler durchquerten 1990 rund 14 000 Personen pro Tag den Gotthard mit der Bahn. Heute sind es 9000. Dafür macht der Fahrplanexperte die Vernachlässigung der Strecke durch die SBB verantwortlich.
SBB-Sprecher Reto Schärli kommentiert diesen Rückgang nicht. Das Bundesamt für Verkehr sagt, der geringe Zeitgewinn auf der neuen Gotthardstrecke sei auf veränderte Rahmenbedingungen seit den Volksabstimmungen zurückzuführen.
Die Neat ist ein Milliardengeschenk der Steuerzahler an die SBB. Als Dank müssen die Bahnreisenden möglicherweise für eine Fahrt durch den neuen Basistunnel noch einen Sonderzuschlag bezahlen. In einer Studie des Bundesamts für Verkehr von 2011 war von Fr. 12.90 pro Fahrt die Rede (saldo 9/11). «Die Preisgestaltung ist Gegenstand von Gesprächen mit Branche und Preisüberwacher und wird zu gegebener Zeit kommuniziert», sagen die SBB.