Seit dem Ende der Sommerferien werben Tausende von Kandidatinnen und Kandidaten für ihre Wahl ins nationale Parlament. Sie versuchen, sich mit persönlichen Wahlversprechen von der Konkurrenz abzuheben. Nur: Kaum sind sie ins Parlament eingezogen, ist es bei vielen Politikern mit der persönlichen Linie vorbei: Bei Abstimmungen sind die meisten voll auf Parteikurs. Das zeigt eine Auswertung der Politanalysten von Smartmonitor.ch. Sie haben 20'000 Nationalrats-Abstimmungen seit 2004 ausgewertet.
Immer weniger Abweichler in allen Parteien
Die Analyse zeigt auch, wie sich das Abstimmungsverhalten in den letzten Jahrzehnten veränderte. Abgesehen von der GLP, gab es in allen Parteien immer weniger Abweichler. Zwischen 2003 und 2007 stimmten 78 Prozent der CVP-Parlamentarier mit der Mehrheit der Partei. Bei der FDP betrug die Parteigeschlossenheit von 2003 bis 2007 rund 81 Prozent. Bei beiden Parteien stieg dieser Wert seit 2019 auf rund 87 Prozent.
Die SVP machte einen Sprung von rund 82 Prozent vor zwanzig Jahren auf 92 Prozent heute. Bei der SP und bei den Grünen stimmten aktuell rund 96 Prozent der Nationalräte mit der Mehrheit, in der Amtsperiode 2003 bis 2007 waren es noch 91 beziehungsweise 92 Prozent.
Die Auswertung zeigt auch: Einzelne Politikerinnen und Politiker stimmen fast immer so ab, wie es die Fraktionsspitze empfiehlt. Die Zürcher Grüne Marionna Schlatter zum Beispiel stimmte in 5359 von 5383 Abstimmungen (99,6 Prozent) wie ihre Fraktion, nur 24-mal war sie anderer Meinung. Sie war in den letzten vier Jahren die linientreuste Nationalrätin.
Auf der anderen Seite der Rangliste steht der Berner FDP-Nationalrat Christian Wasserfallen. Er stimmte 484-mal anders ab als die Mehrheit seiner Parteikollegen.
Für Konsumenten ist das nicht zwingend eine gute Nachricht: Wasserfallen ist ein Lobbyvertreter der Wirtschaft und setzt sich für drei Organisationen der Baubranche ein. Der «K-Tipp» rechnete aus, dass er oft gegen Konsumentenanliegen gestimmt hat («K-Tipp» 14/2023).
Bundesverfassung verbietet Abstimmungsbefehle
Die Parteispitze macht keinen Hehl aus ihrer Erwartungshaltung gegenüber den eigenen Mitgliedern. So schreibt sie etwa in ihrem Fraktionsreglement, dass ihre Politiker das «Prinzip der Geschlossenheit» beachten müssten. Zur «Kultur der Loyalität» der FDP gehört es zum Beispiel, dass bestimmte «Fraktionsentscheide» unterstützt werden. Ein Insider sagt gegenüber saldo, dass damit in erster Linie «strategisch wichtige Geschäfte» gemeint seien: «In bestimmten Fragen ist es unerwünscht, anders abzustimmen.»
Dabei verbietet die Bundesverfassung Abstimmungsbefehle an National- und Ständeräte. In Artikel 161 heisst es: «Die Mitglieder der Bundesversammlung stimmen ohne Weisungen.» Von neu gewählten Politikern wird sogar ein Schwur oder ein Gelübde verlangt, das zu beachten.