Der österreichische Verband für Konsumenteninformation (VKI) hatte im Oktober Grund zur Freude. Vor sechs Jahren hatte er gegen die Volkswagen AG (VW) mehrere Sammelklagen für 10'000 Kläger eingereicht. Der Autohersteller hatte von 2008 bis 2015 die Software in seinen Dieselfahrzeugen so manipuliert, dass die Autos im Test weniger Schadstoffe ausstiessen als auf der Strasse. Als die Manipulation aufflog, sank der Wert der Fahrzeuge.
Nach längeren Verhandlungen kam es am 2. Oktober zu einem Vergleich: VW zahlt 23 Millionen Euro an die 10'000 Käufer von VW-Dieselautos mit manipulierter Software. Im Gegenzug zieht der VKI seine Sammelklagen zurück (saldo 18/2024). Der österreichische Konsumentenverband hatte schon früher Erfolg mit Sammelklagen – etwa wegen fehlerhafter Brustimplantate oder missbräuchlicher Bestimmungen von Lebensversicherungen.
Bundesrat befürwortet die Einführung von Sammelklagen
In der Schweiz wäre ein solcher Erfolg nicht möglich. Sammelklagen kennt das schweizerische Recht bis jetzt nicht. Und wenn es nach dem Willen der Rechtskommission des Nationalrats geht, soll es auch in Zukunft keine kollektive Klagemöglichkeiten geben. Denn die Kommission beschloss Mitte Oktober, nicht auf die Vorlage des Bundesrats einzutreten. Die Kommission schob ihren Entscheid während der letzten zweieinhalb Jahre auf die lange Bank – insgesamt drei Mal.
Immer wieder forderte sie neue Abklärungen. Als endlich alle offenen Fragen geklärt waren, trat sie trotzdem nicht auf die Vorlage ein. Das Protokoll einer angekündigten Ablehnung:
- Dezember 2021: Der Bundesrat schlägt dem Parlament vor, dass Verbände künftig für eine Vielzahl von betroffenen Leuten mit einer Verbandsklage Ersatzansprüche einklagen dürfen. Diese Organisationen dürfen nicht gewinnorientiert sein.
- Juni 2022: Ohne den bundesrätlichen Vorschlag geprüft zu haben, verschiebt die Rechtskommission des Nationalrats am 24. Juni den Entscheid über das Eintreten mit 14 zu 5 Stimmen bei 5 Enthaltungen ein erstes Mal. Begründung: Der Vorschlag des Bundesrats lasse zu viele Fragen offen. Die Kommission verlangt Informationen zu den Auswirkungen auf die Unternehmen und einen Vergleich mit ausgewählten EU-Staaten.
- Juli 2023: Die vom Bundesamt für Justiz beauftragte Uni Lausanne und das Berner Beratungsbüro Ecoplan geben umfassende Studien ab. Rechtsprofessorin Eva Lein von der Uni Lausanne untersuchte die EU-Richtlinien zur Verbandsklage und deren Umsetzung in anderen europäischen Ländern. Ecoplan klärte die Auswirkungen auf Unternehmen und auf die Gesamtwirtschaft ab. Die EcoplanStudie rechnet weder mit einem markanten Anstieg von Klagen noch mit Preiserhöhungen oder mit einem Abwandern von Firmen ins Ausland. Am 4. Juli nimmt die Rechtskommission die beiden Studien zur Kenntnis und verschiebt den Entscheid über das Eintreten auf die Vorlage ein zweites Mal. Die Kommission verlangt unter anderem, dass von Sammelklagen potenziell betroffene Unternehmen zu befragen seien.
- April 2024: Ecoplan reicht den Zusatzbericht ein. Er basiert auf einer repräsentativen Umfrage bei 829 Firmen. Bloss 50 gehen davon aus, dass Sammelklagen zu einer Preiserhöhung führen könnten. 21 erachten es als wahrscheinlich, dass gegen sie in der Schweiz jemals eine Verbandsklage eingereicht würde. Und nur gerade 2 der 829 Firmen gaben an, dass sie wegen der bundesrätlichen Vorlage allenfalls den Hauptsitz in ein anderes Land verlegen könnten. Die Rechtskommission nimmt den Zusatzbericht von Ecoplan am 12. April zur Kenntnis und verschiebt den Entscheid über das Eintreten auf die Vorlage ein drittes Mal. Sie sieht «weiteren Klärungsbedarf» und beauftragt die Bundesverwaltung, darzulegen, welche «direkten oder indirekten Folgen» das zwei Tage vor der Sitzung ergangene Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Strassburg zum Verein der Klimaseniorinnen Schweiz auf die Sache hat.
- Oktober 2024: Das Bundesamt für Justiz kommt zum Schluss, das Strassburger Urteil habe keinen Einfluss. Es betreffe nur Verwaltungsrecht, also das Handeln des Staats in Bezug auf den Klimawandel. Die Rechtskommission entscheidet am 18. Oktober mit 14 zu 10 Stimmen dennoch, dem Nationalrat zu beantragen, nicht auf die Vorlage einzutreten. Begründung: Die Vorlage berge «das Risiko einer ‹Amerikanisierung› des Rechtssystems».
Furcht vor «Amerikanisierung» ist unbegründet
Fazit: Die Mehrheit der Kommission wollte sich also nicht die Mühe nehmen, die Vorlage zu prüfen. Sie brachte das Schreckgespenst der USamerikanischen Sammelklage ins Spiel. Das Argument ist so alt wie falsch. Richtig ist: Die Eigenheiten von US Prozessen beruhen auf Besonderheiten, mit denen Sammelklagen als Druckmittel für einen Vergleich missbraucht werden können: Die Gerichtskosten sind sehr tief. Jede Partei muss ihre Kosten selbst tragen – also auch der Beklagte, wenn er den Prozess gewinnt.
Die Anwälte arbeiten auf reiner Erfolgsbasis. Die Verhandlungen finden vor einem Geschworenengericht aus Laien statt, das exorbitante Strafzahlungen zusprechen kann. All diese Besonderheiten existieren im Schweizer Prozessrecht nicht. Sie sind auch bei der vorgeschlagenen Verbandsklage nicht vorgesehen. Wie in jedem Prozess gelten die allgemeinen Regeln der Zivilprozessordnung.
In der Rechtskommission des Nationalrats sitzen 25 Nationalrätinnen und Nationalräte: 16 vertreten bürgerliche Parteien (SVP, FDP, Mitte), 9 linke (Grüne, SP). Das letzte Wort hat der Nationalrat. Er entscheidet am 11. Dezember über die Vorlage.
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