Im Jahr 1990 flog der Fichenskandal auf. Der Staatsschutz hatte rund 900 000 Dossiers über unbescholtene Bürger angelegt. Zwanzig Jahre später wurde die nächste Fichenaffäre publik: Der Geheimdienst hatte alle einbürgerungswilligen Ausländer – rund 200 000 Personen – in einer Datenbank registriert, auch wenn nichts gegen sie vorlag. Die parlamentarische Aufsicht kam zum Schluss, der Geheimdienst habe die Gesetze verletzt. Konsequenzen hatte es keine.
Keine andere Behörde hat die Grundrechte der Bevölkerung so systematisch und wiederholt verletzt wie der Geheimdienst. Trotzdem verabschiedeten National- und Ständerat im September ein Gesetz, das dem Geheimdienst noch mehr Kompetenzen einräumt: Er erhält die gesetzliche Lizenz zum präventiven Schnüffeln. Ein Verdacht auf eine strafbare Handlung ist nämlich für die Überwachung nicht vorausgesetzt. Der Geheimdienst wird gegen Leute eingesetzt, gegen die die Polizei mangels Tatverdacht machtlos ist. Ins Visier dieser Behörde können alle Bürger kommen – umso stossender sind die Mittel, die ihr das Parlament im neuen Gesetz in die Hände geben will:
- Das Abhören von Telefongesprächen und Internettelefonie. Wer wann und mit wem telefoniert hat, darf ein halbes Jahr gespeichert werden.
- Das Überwachen und Filmen von Leuten an allgemein zugänglichen Orten.
- Das Verwanzen von Privaträumen und Durchführen geheimer Hausdurchsuchungen.
- Das heimliche Eindringen in Computer, Clouds und Smartphones. Damit hat der Geheimdienst beispielsweise Einblick in Fotos, Passwörter, Kontakte, Standorte des Handybesitzers, Google-Suchanfragen, besuchte Homepages sowie Dialoge in E-Mails, Whats-App oder Facebook.
- Das Durchforsten der Datenströme des Internets nach Stichworten, ohne dass die Betroffenen informiert oder die Daten nach einer bestimmten Zeit gelöscht werden müssen.
- Das Weitergeben von Daten von Schweizer Bürgern an die Behörden anderer Länder.
- Das Benutzen von Privatpersonen als Spitzel und Schnüffler und Ausstatten dieser Leute mit einer falschen Identität.
Professor: Neues Gesetz missachtet die Verfassung
Rainer J. Schweizer, ehemaliger Professor der Universität St. Gallen, kritisierte im Juristenmagazin «Plädoyer» das Gesetz scharf. Es missachte die Verfassung und die vom Bundesgericht entwickelten Grundsätze zur Datenbeschaffung des Staates. Hauptvorwurf: Die Bevölkerung muss sich nach dem neuen Gesetz überwachen lassen, ohne Auskunft über die eigenen Daten verlangen zu können. Das Gesetz sagt explizit, dass es kein Rechtsmittel gibt.
Problematisch findet Schweizer besonders, dass der Geheimdienst über lange Zeit massenweise Daten speichern darf. Der Europäische Gerichtshof habe letztes Jahr eine viel weniger weit gehende Vorratsdatenspeicherung als grundrechtswidrig eingestuft.
«Es lief bisher nicht sauber beim Geheimdienst», sagt Viktor Györffy, Rechtsanwalt und Präsident des Vereins Grundrechte.ch. «Mit dem neuen Gesetz wird es garantiert nicht besser.» Die zuständigen Gremien seien nicht in der Lage, den Geheimdienst zu kontrollieren. Rainer J. Schweizer, der als Gerichtspräsident die Nachrichtendienste 13 Jahre beaufsichtigen musste, bestätigte in einem «Plädoyer»-Interview: «Man wird an der Nase herumgeführt.»
Laut dem neuen Gesetz dürfte der Geheimdienst Informationen von Schweizern an alle Länder weitergeben, sofern diese ein Menschenrechtsabkommen wie die EMRK oder die Uno-Pakte unterzeichnet haben. Das trifft jedoch auf viele Länder zu – etwa auch auf Israel, Russland und die USA.
Zwischen den Geheimdiensten der Länder hat sich in den letzten Jahren ein blühender Tauschhandel entwickelt: Wer Daten gibt, bekommt im Gegenzug Daten.
Das geht so weit, dass die Geheimdienste der Staaten bewusst Bürger anderer Nationen ausspionieren, weil das innenpolitisch weniger heikel ist: «Die USA, Deutschland und England überwachen die jeweils fremde Bevölkerung und tauschen dann einfach die Daten aus», sagt Györffy. So kommen sie ebenfalls an die gewünschten Informationen.
Rainer J. Schweizer schreibt denn auch in einem Fachartikel: Das neue Gesetz sei ein mit der üblichen Verspätung von kleineren Ländern entworfenes Gesetz im Sinn der Gesetzgebung der USA, die genau besehen aus Kriegsrecht stamme.