Der Kläger erscheint leicht verspätet vor dem Einzelrichter des Bezirksgerichts Zürich. Sein Anwalt ist bereits vor Ort. Der Beklagte ist selbst Jurist, lässt sich aber ebenfalls von einem Anwalt vertreten. Er wirkt genervt.
Der Kläger besitzt ein Mehrfamilienhaus im Zürcher Quartier Wiedikon, in dem er auch wohnt. Direkt angrenzend steht das Haus des Beklagten. Dieser ist jedoch inzwischen an den Zürichberg umgezogen.
Stein des Anstosses im Nachbarschaftsstreit ist eine Säule aus Granit. Der Anwalt des Klägers reicht vor Gericht Fotografien ein, um das Geschehene zu belegen. Darauf ist ersichtlich, wie der Vorplatz der Häuser vor der laut Anwalt «eigenmächtigen Umgestaltung durch den Nachbarn» aussah. Zwischen den beiden Jugendstilhäusern befand sich die rund zwei Meter hohe Granitsäule.
Die Säule stand laut Anwalt des Klägers auf der Grenze und habe sich daher im Miteigentum beider Eigentümer befunden. «Doch der Beklagte entfernte die Säule eigenmächtig und verlegte sie auf sein Grundstück», sagt er. Er benutzte sie, um mit einer weiteren fast gleichen Säule auf der anderen Seite ein Tor zu bauen.
Der Anwalt zeigt dem Einzelrichter ein Bild aus dem Jahr 1920, das er im baugeschichtlichen Archiv der Stadt Zürich fand. Darauf sieht man, dass einst mehrere solcher Säulen zwischen den Grundstücken standen. «Ein Grossteil musste in den Siebzigerjahren leider Parkplätzen weichen», erzählt der Anwalt.
Laut dem Anwalt hat sein Mandant sofort reklamiert, als die Säule von der Grenze entfernt wurde. Daraufhin habe der Beklagte behauptet, die Säule sei auf seinem Grundstück gestanden. «Der Nachbar hätte die Granitsäule nicht ohne Einverständnis meines Klienten versetzen dürfen», sagt der Anwalt, «und als Jurist wusste er das genau.»
Der Anwalt rechnet den angerichteten Schaden vor: «Laut Offerte eines Steinhauers würde ein Ersatz der Säule rund 25 000 Franken kosten.» Diese bestehe aus Gotthardgranit, der nur noch im Urner Reusstal abgebaut werde. Die Säule habe aber für den Kläger auch einen emotionalen Wert. Statt Geld zu erhalten, wäre es ihm lieber, der Beklagte würde die historische Säule zurückversetzen.
Der Anwalt des Beklagten schildert den Sachverhalt anders. Sein Mandant habe vor den Umbauarbeiten mit der Liegenschaftsverwaltung des Klägers Kontakt aufgenommen, was der Architekt bezeugen könne. Die Verwaltung habe sich nicht für das Vorhaben interessiert. Nach den erfolglosen Kontaktversuchen habe sich der Beklagte berechtigt gefühlt, die Säule zu verschieben. Er sei zudem davon ausgegangen, dass sie ihm gehöre. Die vorherige Eigentümerin habe ihm das gesagt. Ausserdem bestehe die Säule nicht aus Gotthardgranit. Die Offerte des Steinmetzes sei stark überhöht.
Keine Aussicht auf Erfolg für den Beklagten – Vergleich akzeptiert
Der Anwalt des Klägers widerspricht: «Es gab keine vorgängige Information, dass die Säule entfernt werde. Deshalb erfolgte auch nie eine Zustimmung – auch keine stillschweigende.» Die Verwalterin wäre auch gar nicht befugt gewesen, einer solchen baulichen Massnahme zuzustimmen. Diese sei nur für die Bewirtschaftung der Liegenschaft zuständig.
Nach knapp zwei Stunden macht der Einzelrichter den Nachbarn einen Vorschlag für einen Vergleich. Darin gibt er dem Beklagten zu verstehen, dass das Urteil zugunsten des Klägers herauskommen würde, wenn kein Vergleich zustande kommen sollte. Daraufhin erklärt der Beklagte sich bereit, einen Grossteil der Kosten für den Bau einer neuen Säule und die Gerichtskosten von 1800 Franken zu übernehmen. Die Kosten für ihre Anwälte zahlen beide Nachbarn selbst.
Grenzvorrichtungen: Änderungen sind nur mit dem Einverständnis des Nachbarn möglich
Stehen Abgrenzungen wie Mauern oder Hecken auf der Grenze, gilt gemäss Gesetz die Vermutung, dass sie beiden Nachbarn gehören – egal, wie weit die Installationen auf die beiden Nachbargrundstücke ragen. Ein einzelner Grundeigentümer darf also nicht allein über die Änderung oder Entfernung der Abgrenzung entscheiden. Können sich Nachbarn nicht einigen, entscheidet auf Klage hin das Gericht.