Senioren, die zu wenig essen, riskieren einen Eiweissmangel. Das schreibt der Lebensmittelkonzern Nestlé auf seiner Internetseite. Die angebliche Lösung: Das Eiweisspulver Resource Whey Protein. Man kann es ins Essen oder in Getränke mischen.
Neben dem Nestlé-Produkt gibt es zahlreiche andere solcher Pulver – etwa das Fresubin Protein Powder der Firma Fresenius Kabi. Auch Coop und Migros haben einige Produkte mit zusätzlichem Eiweiss im Angebot. Zum Beispiel das «Proteinbrot». Es enthält eine «Eiweissmischung» und Molkepulver. Oder der Hüttenkäse «High Protein». Ein Becher enthält 32 Gramm Eiweiss – fast ein Drittel mehr als normaler Hüttenkäse.
Auch der Bund betont, dass Senioren viel Eiweiss bräuchten. Das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit empfiehlt, jeden Tag 1,2 Gramm Eiweiss pro Kilogramm Körpergewicht zu sich zu nehmen. Das ist ein Drittel mehr als bei jungen Erwachsenen. Grund: Die Eiweisszugabe verhindere Muskelschwund im Alter – und wer starke Muskeln habe, der stürze weniger.
Übermässiger Eiweisskonsum schadet eher
Das Problem: Die Eiweiss-These ist wissenschaftlich nicht belegt. Gemäss der Deutschen Gesellschaft für Ernährung benötigen Ältere nur 1 Gramm Eiweiss pro Kilo Körpergewicht. Dies sei aber nur ein Schätzwert, betont Ernährungswissenschaftlerin Silke Restemeyer: «Die Studienlage reicht nicht aus, um den Bedarf für Erwachsene ab 65 Jahren genau zu bestimmen.»
Eine US-Studie zeigte gar auf, dass die Zufuhr von viel Eiweiss gar nichts bringt. Die Studie erschien 2018 im renommierten Fachmagazin «Journal of American Medical Association». Die Forscher untersuchten ein halbes Jahr lang 92 Senioren. Sie teilten die Studienteilnehmer in zwei Gruppen ein. Eine Gruppe nahm jeden Tag 1,3 Gramm Eiweiss pro Kilogramm Körpergewicht zu sich. Die zweite Gruppe nur 0,8 Gramm. Resultat: Mehr Eiweiss führte nicht zu stärkeren Muskeln. Die Studienautoren kamen zum Schluss: Ältere brauchen nicht mehr Eiweiss als jüngere Erwachsene.
Im Gegenteil, zu viel Eiweiss kann auch Nachteile haben. Präventivmediziner David Fäh von der Berner Fachhochschule sagt: «Eiweisse sättigen stark. So können bei Senioren andere wichtige Nährstoffe zu kurz kommen – zum Beispiel Nahrungsfasern.» Zudem würden Studien zeigen, dass Leute, die zu viel Eiweiss aufnähmen, eher an Diabetes Typ 2, Herz-Kreislauf-Krankheiten und Krebs erkrankten.
Dies belegt auch eine US-Studie aus dem Jahr 2014. Die Forscher hatten 20 Jahre lang die Daten von über 7000 Teilnehmern ausgewertet. Resultat: Teilnehmer, die mehr als 20 Prozent der Kalorien aus Eiweiss bezogen hatten, erkrankten eher an Krebs.
Produkte mit zugesetztem Eiweiss sind oft teuer. Der Hüttenkäse «High Protein» von Nestlé zum Beispiel kostet mehr als doppelt so viel wie normaler Hüttenkäse. Das Proteinbrot von Coop ist sogar dreimal so teuer wie frisches St. Galler Brot.
Proteinwert des Bundes basiert auf Zahlen von Nestlé-Meeting
Gesunde Senioren können ihren täglichen Eiweissbedarf aber gut mit normalen Lebensmitteln decken. Ernährungsberaterin Stefanie Bürge aus Uster ZH empfiehlt jeden Tag drei Portionen Milchprodukte wie Joghurt oder Käse sowie eine Portion Fisch, Fleisch oder Eier. «Wer das Menü mit vollwertigen Beilagen wie Vollkornreis ergänzt, kann den Bedarf decken», sagt sie. Auch Tofu, Seitan und Quorn enthalten viel Eiweiss. Ebenso Hülsenfrüchte wie Linsen und Erbsen.
«Gesundheitstipp»-Arzt Thomas Walser sagt: «Um die Muskeln zu stärken, sollte man sich regelmässig bewegen und zum Beispiel Krafttraining machen.» Das geht auch zu Hause. Der «Gesundheitstipp» hat dazu mehrere Merkblätter verfasst. Beim «Isometrischen Training» stärkt man beispielsweise die Muskeln im Verharren. Beim «Wandsitz» lehnt man sich mit geradem Rücken an eine Wand. Dann geht man in die Knie, als ob man sich auf einen Stuhl setzen würde. Im Merkblatt «Die Stube als Fitnessstudio» sind Übungen mit Hanteln zu finden. Und im Merkblatt «Übungen mit der Kettlebell» zeigt der «Gesundheitstipp», wie man mit der Kugelhantel gesund trainiert.
Das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit verweist in seiner Stellungnahme auf einen Fachartikel von 2013. Es handelt sich um ein Positionspapier internationaler Forscher. Sie erarbeiteten an einem Treffen Empfehlungen für den Eiweissbedarf von Senioren. Das Meeting wurde von Nestlé finanziert. Und die Autoren erhielten Gelder von weiteren Eiweisspulverherstellern, darunter Fresenius Kabi. Die Migros schreibt, ihre Produkte könnten alten Menschen mit wenig Appetit helfen, genügend Eiweiss aufzunehmen. Coop begründet den höheren Preis solcher Produkte mit der aufwendigen Herstellung.
Nestlé schreibt, das Proteinpulver richte sich an Patienten, die ein Risiko für Mangelernährung hätten. Deshalb sei es ausschliesslich in Apotheken erhältlich. Fresenius Kabi schreibt, ihre Produkte seien für erkrankte Menschen vorgesehen.
Gratis-Merkblätter:
«Die Stube als Fitnessstudio», «Isometrisches Training», «Übungen mit der Kettlebell»
Download: www.gesundheitstipp.ch oder bestellen bei: Gesundheitstipp, «Name Merkblatt», Postfach, 8024 Zürich