Freitagabend, Ende September, auf der vielbefahrenen Badenerstrasse in Zürich: Ein Betonmischer biegt rechts ab. Er übersieht und überfährt eine Velofahrerin. Die Frau stirbt noch auf der Unfallstelle. Das ist der dritte solche Todesfall innert drei Jahren – und das allein in der Stadt Zürich.
Zahlen des Bundesamts für Statistik zeigen: 2021 ereigneten sich in der Schweiz 4183 der 17 436 Unfälle mit Personenschaden auf Kreuzungen: beim Einbiegen, Abzweigen oder Überqueren der Fahrbahn. 24 Menschen starben, 804 wurden schwer verletzt, 3355 leicht.
Besonders häufig gibt es Kollisionen beim Ab- oder Einbiegen nach links – in der Schweiz geht rund die Hälfte aller Kreuzungsunfälle darauf zurück. Das zeigt eine länderübergreifende Studie, die der deutsche Automobilclub ADAC zusammen mit dem österreichischen ÖAMTC und der Versicherung Axa Schweiz im Frühling dieses Jahres vorlegte.
Für die Unfallforscher ist klar: Am Steuer sind eine gute Rundumsicht und eine gute Sicht nach links enorm wichtig. Sie können Leben retten.
Der ADAC prüft beide Faktoren in seinen Autotests automatisiert mittels Kameralinsen auf einer Messpuppe. saldo sah sich Testberichte zu 60 Modellen verschiedener Hersteller aus diesem Jahr an. Der Befund ist ernüchternd:
- Bei der Rundumsicht fallen 8 der 60 Modelle in die schlechteste Kategorie «mangelhaft». 40 gehören zur zweitschlechtesten Gruppe «ausreichend» und 12 zur mittelmässigen Kategorie «befriedigend». Kein einziges Auto ist «gut» oder «sehr gut».
- Bei der Sicht nach links sind 13 Modelle «ausreichend», 47 «mangelhaft» – davon 9 mit der tiefsten Note (siehe Tabelle im PDF). Grund: Viele Automodelle haben heute massive Säulen zwischen den Fenstern – also sehr breite Verbindungen zwischen Dach und übriger Karosserie. Auch nach hinten ansteigende Seiten- und abfallende Dachlinien sind verbreitet. Dazu kommen schräge Frontscheiben sowie kleine Heck- und hintere Seitenscheiben, die an Sehschlitze erinnern. All das schränkt die Sicht nach aussen stark ein.
Für einige dieser Merkmale gibt es gute Gründe. Massive Säulen etwa verbessern die Stabilität der Karosserie und die Sicherheit der Insassen, falls sich das Auto bei einem Unfall überschlägt. Vieles ist aber bloss eine Frage des Designs.
«Immer wieder Unfälle wegen unzureichender Sicht»
Der TCS hielt schon vor fünf Jahren fest: «Die Hersteller sind bestrebt, ihren Fahrzeugen ausgefallene Formen und Linienführungen zu verpassen. Darunter leidet jedoch der Aspekt der guten Rundumsicht erheblich.»
saldo wollte von Herstellern wissen: Weshalb stellen sie Design vor Sicherheit? Die Amag, die unter anderem die Marken Audi, Cupra, Seat, Skoda und VW importiert, sagt dazu: Neben Stabilität, Aerodynamik sowie Personen- und Passagierschutz würden auch der Platzbedarf für eingebaute Komponenten und das Design eine Rolle spielen. Daher könne man einzelne Elemente wie die Sicht nach hinten nicht «losgelöst betrachten».
Citroën Schweiz erklärt, man habe von Kunden keine Kritik zur Rundumsicht erhalten. «Sie fühlen sich offenbar sicher.» Mercedes beantwortete die saldo-Anfrage nicht.
Der ADAC fordert die Hersteller unmissverständlich auf, die Sichtverhältnisse am Steuer zu verbessern und den Autofahrern ein Höchstmass an unbeeinträchtigter Sicht zu bieten. «Es ereignen sich immer wieder Unfälle, die auf unzureichende Sicht zurückzuführen sind.»
Abbiegeassistent für Lastwagen erst ab 2024 vorgeschrieben
Elektronische Abbiegeassistenten in Lastwagen könnten viele Unfälle verhindern. Die Systeme loten den toten Winkel aus und warnen den Chauffeur (saldo 15/2018). Das Problem: Solche Warnsysteme sind nicht obligatorisch und werden nicht standardmässig in Lastwagen eingebaut. Erst ab Juli 2024 müssen alle neuen Lastwagen und Busse in der Schweiz und der EU serienmässig mit Abbiegeassistenten ausgerüstet sein.