Jeder Bürger soll gemäss seiner wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit besteuert werden. So steht es ausdrücklich im Artikel 127 der Bundesverfassung. Doch die Realität sieht anders aus: Angestellte müssen jeden Franken ihres Einkommens versteuern, während Anleger für die Börsengewinne keinen Rappen abliefern. Auch wer Geld erbt – also nichts für den Vermögenszuwachs leistet –, geht häufig steuerfrei aus. Und schon seit Ende der 50er-Jahre erhebt der Bund auf Vermögen keine direkten Bundessteuern mehr. Mit anderen Worten: Wer zum Leben Geld verdienen muss, wird vom Fiskus kräftig zur Kasse gebeten. Wer Vermögen hat, zahlt je nach Kanton wenig oder gar nichts.
Auch die Mehrwertsteuer ist asozial: Wenigverdiener zahlen verhältnismässig mehr als Grossverdiener. Das zeigen Zahlen des Bundesamts für Statistik: Wer pro Monat weniger als 5000 Franken verdient, liefert 4,66 Prozent dieses Einkommens beim Einkaufen als Mehrwertsteuer ab. Bis 7300 Franken Einkommen sind es 3,81 Prozent, bei über 13 700 Franken nur noch 2,96 Prozent (siehe Tabelle im PDF).
Pro Jahr Finanztransaktionen im Wert von 100 000 Milliarden
Jetzt will eine Gruppe um den Zürcher Finanzprofessor Marc Chesney für mehr Gerechtigkeit sorgen. Er lanciert mit einem überparteilichen Komitee Anfang 2019 eine Volksinitiative (siehe Interview unten): Eine Mikrosteuer soll Mehrwertsteuer und Bundessteuer ersetzen.
So funktioniert die Mikrosteuer: Sämtliche Zahlungsvorgänge in der Schweiz würden mit einem Mini-Betrag im Promillebereich besteuert. Also jeder Kauf, jede Geldüberweisung und jede Börsentransaktion. Gemäss den Initianten macht dieser Zahlungsverkehr in der Schweiz pro Jahr mindestens 100 000 Milliarden Franken aus. Das ist etwa tausend Mal so viel, wie der Bund Schulden hat. Dieser Betrag ergibt sich aus den Rechnungen der Schweizerischen Nationalbank, von Swiss Interbank Clearing SIC und der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich BIZ. Dieser Betrag ist gemäss Chesney «äusserst konservativ berechnet, denn die Banken machen nur unvollständige Angaben zum Handel an der Börse».
Eine Mikrosteuer von beispielsweise 0,5 Promille – also 0,25 Promille pro Belastung und Gutschrift – würde dem Bund 50 Milliarden Franken einbringen. Damit könnte man auf einen Schlag die direkte Bundessteuer (Einnahmen 2017: 21 Milliarden) und die Mehrwertsteuer (Einnahmen 2017: 23 Milliarden) ersetzen.
Konkret: Ein Laptop im Wert von 1000 Franken kostet den Käufer heute 1077 Franken, wenn man die Mehrwertsteuer dazurechnet. In Zukunft würde bei der Geldüberweisung von 1000 Franken das Konto des Käufers mit Fr. 1000.25 belastet, dem Verkäufer werden netto Fr. 999.75 gutgeschrieben. Das heisst: 50 Rappen gehen an den Staat. Und bei einem Barbezug von 100 Franken wird das Bankkonto mit 100 Franken und 2,5 Rappen Steuern belastet.
Mehr Transparenz in der Banken- und Finanzbranche
Die Idee hinter der Mikrosteuer: Statt Menschen und Arbeit zu besteuern, soll der gesamte Zahlungsverkehr abgabepflichtig werden. Investoren und Banken tätigen viel mehr Transaktionen als gewöhnliche Bürger. Deshalb werden sie mit der Mikrosteuer stärker zur Kasse gebeten. Neu würde so auch die Finanzwirtschaft automatisch einen Beitrag an die Steuern leisten. Das entlastet die Wirtschaft und die privaten Haushalte massiv. Die Mikrosteuer ist zudem leicht zu handhaben, da sie automatisiert erhoben werden kann. Die 0,5 Promille gingen direkt zum Bund.
Überdurchschnittliche Erträge aus der Mikrosteuer könnte man auch für andere Zwecke verwenden – etwa zur Finanzierung der AHV oder der Energiewende. Die Mikrosteuer könnte laut den Initianten zudem so angepasst werden, dass sie Steuern und Abgaben auch auf Kantons- und Gemeindeebene ablöst.
Mehr noch: Die Mikrosteuer würde auch für Transparenz in den undurchsichtigen Geschäften der Banken- und Finanzbranche sorgen. Mit ihr würde beispielsweise erstmals jedes einzelne Derivatgeschäft erfasst und besteuert. Dass Derivatgeschäfte riskant sind, zeigte die Pleite der US-Investmentbank Lehman Brothers im Jahre 2008.
Beispiel Börse: Bei einem Börsengeschäft im Wert von 100 000 Franken muss der Verkäufer dem Staat 25 Franken abliefern, der Käufer zahlt ebenfalls 25 Franken. Das klingt nicht nach viel, läppert sich aber zusammen
Beispiel Bancomat: Für 100 Franken Bargeldbezug werden dem Bezüger 2,5 Rappen belastet und der Bank 2,5 Rappen
«Die Mikrosteuer ist gerechter»
Was stört Sie am bisherigen Steuersystem?
Unser Steuersystem ist ungerecht und veraltet. Es wurde 1848 bei der Gründung unseres Bundesstaates eingeführt. In der heutigen Zeit der Digitalisierung sollte man statt der Arbeit die ins Unermessliche gestiegenen Geld-Transaktionen besteuern.
Weshalb ist die Mikrosteuer gerechter?
Sie ist äusserst einfach. Vor allem entlastet sie unsere KMU, die heute unter einem riesigen administrativen Aufwand für die Abwicklung der Mehrwertsteuer leiden. Sie führt aber auch bei weniger begüterten Familien zu einer wesentlichen Einsparung, indem man die Mehrwertsteuer je nach Einnahmen aus der Mikrosteuer reduziert oder komplett ersetzt. Diese Leute zahlen im Verhältnis zu ihrem Lohn überdurchschnittlich viel für die Mehrwertsteuer. Heute ist das Finanzsystem unterbesteuert, die Gesellschaft und die Realwirtschaft aber sind überbesteuert.
Wer kann da etwas dagegen haben?
Die Grossbanken und die Schweizer Börse SIX. Denn diese würden zur Kasse gebeten.
Kann die Schweiz die neue Steuer alleine einführen, ohne dass der Finanzplatz Schweiz zusammenbricht?
Sie kann, auch dank ihrer direkten Demokratie. Sie würde sich mit einer solchen Mikrosteuer sogar noch einen Vorteil verschaffen. Das System ist effizient, billig und transparent. Verschwinden würde vermutlich der Hochfrequenzhandel. Das ist der ultraschnelle computergesteuerte Handel mit Wertpapieren. Im Gegenzug könnte die Schweiz für ausländische Firmen attraktiver werden, weil die Steuern hier tiefer sind und das Steuersystem einfacher.
Wer unterstützt Sie bei der Volksinitiative?
«Vater der Idee» ist der Vermögensverwalter Felix Bolliger. Mit mir dabei sind ETH-Professor Anton Gunzinger, Rechtsanwalt Jacob Zgraggen und der ehemalige Bundes-Vizekanzler Oswald Sigg. Anfang 2019 fangen wir mit der Unterschriftensammlung an.