Der erste Besitzer der Migros war Gottlieb Duttweiler. Er gründete sie 1925 als Aktiengesellschaft. Sein Startkapital betrug 100 000 Franken. Im Jahr 1941 vermachte der gebürtige Zürcher die Migros als Genossenschaft seinen Kunden – sie sollte ihnen allen gehören.
Mit dieser Idee wirbt die Migros zurzeit im ganzen Land. «Ich bin Migros-Besitzerin», lässt sich etwa Heidy M. auf Plakatwänden zitieren. Sie ist eine von 2,2 Millionen Migros-Genossenschaftern und Teil der neuen Werbekampagne. Die Botschaft der verantwortlichen Werber Pascal Schau und Thomas Wildberger: «Hey, wenn mir der Laden gehört, dann kaufe ich natürlich auch bei mir ein.»
Die Idee hinter einer Genossenschaft: Die Mitglieder sollen die Geschäftspolitik mitbestimmen. Doch die Realität sieht anders aus.
Mitmachen kann bei der Migros-Genossenschaft jeder, der in der Schweiz wohnt und sich bereit erklärt, «die Interessen der Genossenschaft in guten Treuen zu wahren». Den Anteilsschein gibt es gratis.
Als Migros-Besitzer darf man die Jahresrechnung seiner Regional-Genossenschaft abnehmen. Als Belohnung erhält man eine Tafel Frey-Schokolade. Dazu gibt es noch Vergünstigungen für kulturelle Veranstaltungen oder Freizeitangebote. Scheidet der Genossenschafter aus, bekommt er für seinen Anteilsschein zehn Franken ausgezahlt.
Die Migros ist in zehn regionale Genossenschaften aufgeteilt. Jede dieser Genossenschaften hat einen Genossenschaftsrat und eine Verwaltung. Die Genossenschaften entsenden zwischen 7 und 17 Delegierte in die Delegiertenversammlung des Migros-Genossenschafts-Bundes (MGB). Eine Verwaltung mit 23 Mitgliedern leitet den MGB. Sie führt die Geschäfte. Anfang Jahr erkor die MGB-Verwaltung Fabrice Zumbrunnen als Nachfolger von Herbert Bolliger zum Migros-Chef. Die Delegierten konnten nicht mitentscheiden.
Die Mitglieder werden in einer stillen Wahl gewählt
Laut Statuten wählen die Genossenschafter alle vier Jahre die Mitglieder des regionalen Genossenschaftsrates, der Verwaltung und der MGB-Delegiertenversammlung. Sie dürfen auch Wahlvorschläge machen. In den vergangenen Jahren wurden aber alle Mitglieder in stiller Wahl gewählt. Das heisst: Es gab keine wirkliche Abstimmung, da die Wahllisten jeweils so viele Kandidierende umfassten, wie Sitze zu vergeben waren. So konnten die Genossenschafter ihr Wahlrecht nicht wahrnehmen.
Laut Pierre Rappazzo vom Migros-kritischen Verein Sorgim («Migros» rückwärts gelesen) entscheiden faktisch die regionalen Verwaltungen und die Geschäftsleiter, wer in den Genossenschaftsrat kommt und wer zusätzlich in der MGB-Delegiertenversammlung Einsitz nehmen darf. In Frage kämen nur unkritische Genossenschafter. «Die Genossenschaftsräte fühlen sich nicht den Genossenschaftern, also den eigentlichen Besitzern, gegenüber verantwortlich – sie müssen der Verwaltung genehm sein.»
Bereits in den 80er-Jahren forderte der Verein M-Frühling wirklich freie und demokratische Wahlen bei der Migros. Die M-Frühling-Kandidaten verbuchten Achtungserfolge, konnten jedoch kein Amt erobern. Schliesslich löste sich der Verein auf. Seit 2004 versucht nun der Verein Sorgim die Migros zu demokratisieren. Er will erreichen, dass die Genossenschafter die Strategie des Konzerns bestimmen und die Geschäftsführung kontrollieren.
In der Region Aare müsste man 10 000 Unterschriften sammeln
Gescheitert sind M-Frühling und Sorgim vor allem an den verschärften Statuten der regionalen Genossenschaften. Denn die Wahlvorschläge der Genossenschafter für den Genossenschaftsrat, die Verwaltung und die MGB-Delegierten müssen je nach Genossenschaft von ein oder zwei Prozent der Mitglieder unterzeichnet sein. In der Migros-Region Wallis bedeutet das mindestens 1600 Unterschriften, in der Region Aare mindestens 10 000.
Zusätzlich verlangen die Statuten, dass alle Unterzeichner Namen, Geburtsjahr, Adresse und Genossenschafts-Mitgliedsnummer angeben. Das macht das Sammeln sehr aufwendig. Die Migros hält die Mitgliederdaten geheim.
Für den Sorgim-Ehrenpräsidenten Pierre Rappazzo funktioniert die Migros «wie die gelenkte Demokratie in Putins Russland». Zu diesem Vergleich will die Migros nichts sagen. Meint aber, ein Unternehmen mit 28 Milliarden Franken Umsatz im Jahr und über 100 000 Mitarbeitenden könne nicht «rein basisdemokratisch geführt werden».
Migros-Sprecher Luzi Weber räumt ein, dass die Genossenschafter in der Praxis weder Genossenschaftsrat, Verwaltung noch MGB-Delegierte wählen können, obwohl die Statuten ihnen dieses Recht zugestehen. Er verweist aber darauf, dass die Genossenschaftsräte über die Besetzung der Organe entscheiden können. In der Migros Zürich beispielsweise bereite eine Kommission aus Genossenschaftsräten die Wahlen vor. Nach einer Ausschreibung im «Migros-Magazin» sichte die Kommission die Bewerbungen für den Genossenschaftsrat und führe Gespräche mit Kandidaten durch.
Rappazzo kennt die Art der Rekrutierung. Zwei Zürcher Genossenschaftsräte führten mit ihm einst ein Bewerbungsgespräch. Dann erteilte ihm der damalige Geschäftsleiter der Migros Zürich persönlich eine Absage. Rappazzo vermutet, dass seine Ideen zur Demokratisierung der Migros den Ausschlag gaben.
Auch Migros-Konkurrent Coop ist als Genossenschaft organisiert. Es genügt, die Coop-Zeitung zu abonnieren – und schon ist man Mitglied. Auch hier gibt es Demokratie nur auf dem Papier. Theoretisch dürften die Genossenschafter die Regionalräte wählen. Doch Coop-Sprecher Roman Gander gibt zu: Bisher gab es jeweils nur eine offizielle Wahlliste mit genauso vielen Kandidierenden wie Sitzen. Die Regionalräte haben das Recht, Wahlvorschläge zu machen.
Auch bei der Mobiliar sind die Hürden sehr hoch
Die Coop-Genossenschafter haben auch das Recht, Kandidaten zu benennen. Für jeden müssen sie aber die Unterschriften von mindestens zwei Prozent der Mitglieder ihres Regionalkreises sammeln. Das sind zwischen 2500 und 12 000 Unterschriften. Immerhin braucht es bei Coop keine Mitgliedsnummer der Unterzeichnenden.
Dass die Regierung das Parlament bestimmt, ist auch bei der Mobiliar Praxis. Diese als Genossenschaft organisierte Versicherung regelt die Auswahl laut Statuten der Delegierten so: Vorschläge können sowohl die Mitglieder wie die Verwaltung machen. Der kleine Unterschied: Wahlvorschläge der Mitglieder müssen von mindestens 500 Mitgliedern unterzeichnet sein, die des Verwaltungsrats müssen diese Hürde nicht nehmen. Der Verwaltungsrat publiziert seine Kandidaten. Und wenn nur so viele vorgeschlagen werden, wie Sitze zu besetzen sind, gelten diese Kandidaten als gewählt.