Noch im März war Manuela Streckeisen (86) der Verzweiflung nahe: «Ich bin komplett fertig und kann kaum mehr schlafen.» Sie wusste nicht, wie sie ihr Haus in Basel ab dem 1. September finanzieren sollte. Auf dieses Datum hin hatte ihr die Migros-Bank am 13. Januar 2015 die zwei Festhypotheken gekündigt.
Als der alte Filialchef weg war, begannen die Probleme
Vorausgegangen war ein Streit um die Überführung einer Erbschaft in Streckeisens Depot. Sie wollte das Konto und Depot des Erbes getrennt halten. Die Migros-Bank verlangte dagegen die Übertragung des Erbes in die bestehende Konto- und Depotverbindung. Kulanterweise habe die Migros-Bank Streckeisens Wunsch fast fünf Jahre lang entsprochen, sie aber verschiedentlich gebeten, die Situation zu bereinigen.Mit dem Chef der Migros-Bank Basel pflegte die betagte Dame einen unproblematischen Kontakt. Doch im Sommer 2015 verliess dieser die Bank.
Am Hauptsitz in Zürich war man mit den Einzelheiten des Falls nicht vertraut. Noch heute bezeichnet ein Sprecher der Bank Streckeisen fälschlicherweise als Alleinerbin der im August 2011 verstorbenen Partnerin. Auch wusste man am Hauptsitz nicht, dass es aus verschiedenen Gründen bis Ende 2015 dauerte, bis die letzten Fragen um die Erbschaft geklärt waren. Dennoch kündigte die Bank im Januar die beiden Festhypotheken mit einem Gesamtkredit von 750 000 Franken per Ende August.
Die Frau musste eine neue Kreditgeberin finden. Das war leichter gedacht als gemacht. Keine Bank wartet auf eine 86-jährige Rentnerin, es sei denn, dass diese Millionen mitbringt. Streckeisen kontaktierte fünf Kreditinstitute: die Pensionskasse Basel-Stadt, die Basler und die Thurgauer Kantonalbank, Raiffeisen und den Hauseigentümerverband. Sie blitzte überall ab. Grund war die Tragbarkeitsrechnung. Als Tragbarkeit bezeichnet man das Verhältnis in Prozent zwischen den Kosten einer Liegenschaft und dem Einkommen des Darlehensnehmers. Als Rentnerin verfügt Streckeisen nicht über ein Einkommen, um gemäss dieser Berechnungsmethode die Kosten einer mit 750 000 Franken belehnten Liegenschaft zu decken. Dass Hypotheken zurzeit sehr günstig sind, nützt ihr nichts. Für die Beurteilung der Tragbarkeit rechnen die Banken nicht mit den aktuell tiefen Zinsen, sondern mit langjährigen Durchschnittszinsen – in der Regel mit 5 Prozent (siehe Unten). Bei Streckeisen entspricht das einer jährlichen Zinsbelastung von 37 500 Franken.
Zusätzlich rechnen die Kreditgeber mit jährlich anfallenden Nebenkosten für Reparaturen und Renovationen von 1 Prozent des Liegenschaftswertes. Im konkreten Fall sind das 11 700 Franken.
Hohe Ausgaben für Renovation blieben unberücksichtigt
Genau dies wurde Streckeisen zum Verhängnis. Sie hat in den vergangenen vier Jahren nach eigenen Angaben 250 000 Franken in die Renovation des Hauses gesteckt – unter anderem für Aussenisolation und eine Solaranlage. Deshalb werden in den kommenden Jahren kaum Nebenkosten anfallen. Mit diesem Argument lief sie bei den Kreditgebern aber auf.
Raiffeisenbank ging über die Bücher und gewährte Hypothek
Wer bei der Tragbarkeitsrechnung abblitzt, muss entweder mehr Einkommen oder mehr Eigenmittel bringen. Ersteres ist gerade für Leute im Rentenalter kaum möglich. Die Eigenmittel kann man allenfalls durch ein Darlehen Dritter, durch eine Schenkung, einen Erbvorbezug oder die Verpfändung von Vermögenswerten erhöhen.
Tatsächlich zeigte sich eine Bekannte der 86-Jährigen bereit, ihr ein zinsloses Darlehen von 80 000 Franken zu geben. Auch die Raiffeisenbank prüfte den Fall neu, stellte ihr zunächst einen Hypothekarkredit von 660 000 Franken in Aussicht und ist inzwischen sogar bereit, die volle Hypothekarschuld von 750 000 Franken zu übernehmen. Damit kann Streckeisen die zwei Hypotheken der Migros-Bank ablösen.
Noch vor kurzem sagte die alte Dame: «In den kommenden Jahren werde ich nur noch in alten Klamotten herumlaufen können – dank der Migros-Bank.» Jetzt kann sie aufatmen – dank der Einsicht von Raiffeisen.
Das müssen Hypothekarschuldner wissen
Kreditgeber werben mit attraktiven Zinsen. Geht es aber um die Frage, ob sich jemand eine Hypothek leisten kann – um die sogenannte Tragbarkeit –, gelten andere Massstäbe. Die Berechnung stützt sich nicht auf aktuelle, sondern auf langjährige Durchschnittszinsen. Die Banken rechnen in der Regel mit 5 Prozent. Zusätzlich belasten sie jährliche Kosten für den Unterhalt von 1 Prozent des Liegenschaftswerts. Zins, Nebenkosten und Amortisation der Hypothek sollten ein Drittel des Einkommens nicht übersteigen.
Im Rentenalter sinkt das Einkommen. Ist das Haus mit einer hohen Hypothek belastet, steigt das Risiko, dass die Tragbarkeit nicht mehr gegeben ist. Deshalb ist es ratsam, die Hypothekarschuld rechtzeitig abzubauen.
Ein Hypothekarvertrag kann wie jeder Vertrag innert der vereinbarten Frist gekündigt werden – von der Bank wie vom Kreditnehmer. Ausnahme: Es handelt sich um eine Festhypothek, die am Ende der Laufzeit ohne Kündigung abläuft. Bei einem Teil der Banken wird sie als variable Hypothek weitergeführt, wenn das Geld nicht zurückgezahlt oder eine neue Festhypothek abgeschlossen wurde.