Mehr Arztpraxen: Höhere Kosten ohne Zusatznutzen
Ab dem nächsten Jahr werden viele Ärzte eine Praxis eröffnen. Das kostet die Prämienzahler Millionen und bringt den Patienten kaum etwas.
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saldo 20/2011
03.12.2011
Letzte Aktualisierung:
06.12.2011
Eric Breitinger
Für nächstes Jahr rechnen die Kantone mit zweistelligen Zuwachsraten bei Arztpraxen. Grund: Das Parlament hat vor kurzem den seit 2002 geltenden Zulassungsstopp für Facharztpraxen aufgehoben. Spezialisten können sich ab 2012 ohne Beschränkung in der ganzen Schweiz niederlassen und Leistungen über die Krankenkassen abrechnen.
Haus- und Kinderärzten war das bereits seit letztem Jahr erlaubt. Folge: 2010 haben laut dem Bundesrat 405 dieser Ärzt...
Für nächstes Jahr rechnen die Kantone mit zweistelligen Zuwachsraten bei Arztpraxen. Grund: Das Parlament hat vor kurzem den seit 2002 geltenden Zulassungsstopp für Facharztpraxen aufgehoben. Spezialisten können sich ab 2012 ohne Beschränkung in der ganzen Schweiz niederlassen und Leistungen über die Krankenkassen abrechnen.
Haus- und Kinderärzten war das bereits seit letztem Jahr erlaubt. Folge: 2010 haben laut dem Bundesrat 405 dieser Ärzte eine Praxisbewilligung der kantonalen Behörden erhalten – 39 Prozent mehr als im Vorjahr. Unklar ist, wie viele von ihnen inzwischen eine Praxis eröffnet haben. 44 Prozent der Antragsteller hatten ausländische Diplome.
Jede neue Praxis kostet die Prämienzahler rund 500 000 Franken
Der Präsident des Ärzteverbandes FMH, Jacques de Haller, begrüsst das Ende des «ineffizienten» Verbots. Es habe die Kostensteigerungen nicht gebremst. Anders die Sicht der Gesundheitsdirektoren der Kantone: Sie beklagen den Verlust ihres einzigen Steuerungsinstruments. «Bisher konnten wir Praxisbewilligungen nach Bedarf vergeben», sagt Michael Jordi von der Gesundheitsdirektoren-Konferenz. Er warnt vor einem Kostenschub zulasten der Prämienzahler. Denn es würden «neue Praxen gegründet, für die es keinen Bedarf gibt». Jede neue Praxis kostet die Prämienzahler laut Jordi im Durchschnitt 500 000 Franken pro Jahr zusätzlich.
Die Patienten profitieren nicht zwingend von mehr niedergelassenen Ärzten. André Busato vom Institut für Sozial- und Präventivmedizin der Universität Bern verweist auf US-Studien, die zeigen, dass sich niedergelassene Ärzte «einen Teil der Nachfrage selbst schaffen». Busato wies 2010 in einer eigenen Studie anhand der Abrechnungen der Krankenkassen nach, dass Schweizer Hausärzte, die keine Medikamente abgeben dürfen, 14 Prozent mehr für Behandlungen und Tests abrechnen als selbst dispensierende Ärzte. Zudem steigen die Kosten mit der Grösse der Praxis. Dabei waren die behandelten Patienten nicht kränker als andere. Viele Behandlungen nutzten also allein dem Arzt. Busato befürchtet, dass die Aufhebung des Niederlassungsstopps «für höhere Kosten ohne zusätzlichen Nutzen für die Patienten» sorgt.
Klar ist: Die Ärzte liessen sich bisher nicht dort nieder, wo die Patienten warteten. Die Schweiz gehört zu den Ländern mit der weltweit höchsten Ärztedichte. Doch zu wenige der 16 000 niedergelassenen Ärzte praktizieren auf dem Land. In Appenzell-Innerrhoden und Obwalden musste laut der FMH-Statistik von 2009 ein niedergelassener Arzt 900 Patienten versorgen, in Uri und Nidwalden waren es 800. In Basel kommen nur 250 Patienten auf einen Arzt, in Genf 300, in Zürich 440.
Die Ärzte wollen vor allem in städtischen Gebieten praktizieren
«Daran wird die Aufhebung des Zulassungsstopps nichts ändern», sagt Maik Roth vom Gesundheitsobservatorium Obsan: «Spezialisten zieht es ohnehin in städtische Gebiete.» Eine Obsan-Studie belegt das. Aber auch Hausärzte drängen in die Stadt, wie aktuelle Zahlen des Krankenkassenverbands Santésuisse zeigen. Jeder sechste Arzt stellte 2010 seinen Antrag in Zürich. Für Busato ist klar, dass ohne neue Regulierungen «die medizinische Überversorgung in städtischen Gebieten und die Unterversorgung in ländlichen Regionen weiter zunimmt».