Normalerweise müssen die Krankenkassen nur jene Medikamente bezahlen, welche die Behörden geprüft haben und die für die Behandlung einer bestimmten Krankheit zugelassen sind. Doch seit acht Jahren müssen die Kassen auch nicht zugelassene Medikamente übernehmen, sogenannte Off-Label-Medikamente. Voraussetzung: Sie verlängern oder verbessern das Leben eines Patienten.
Zu den Off-Label-Medikamenten gehören zudem solche, welche zur Behandlung einer bestimmten Krankheit zugelassen sind, aber bei einem anderen Leiden angewandt werden. Der Arzt muss dafür bei der Kasse ein Gesuch stellen. Diese prüft, ob das Medikament dem Patienten einen «grossen Nutzen» verspricht und ob es «keine andere wirksame und zugelassene Behandlung» gibt. Den Entscheid muss sie innert 14 Tagen fällen. Diese Regelung ist europaweit einzigartig.
Krankenkassen lehnen 30 Prozent der Gesuche ab
Letztes Jahr erhielten die Kassen mehr als 25 000 solche Gesuche. Vor vier Jahren waren es noch 6000 bis 8000. Das zeigen Zahlen des Verbands Santésuisse und des Bundesamts für Gesundheit. Mehr als die Hälfte der Gesuche im Jahr 2014 betrafen Mittel gegen Krebs. Danach folgten Medikamente zur Behandlung anderer Leiden wie multipler Sklerose, Diabetes oder seltener Krankheiten.
Eine Studie des Unispitals Basel untersuchte, welche Folgen dieser Off-Label-Boom bei Krebsmitteln hat. Die Forscher werteten 518 Gesuche aus. Erste Ergebnisse der noch nicht veröffentlichten Studie stellten die Autoren kürzlich auf einem Krebskongress vor. Sie liegen saldo vor: Kassen lehnten im Durchschnitt 30 Prozent der Gesuche ab, 70 Prozent hiessen sie gut. Der Off-Label-Einsatz führt zur Ungleichbehandlung der Patienten. Denn die Kassen beurteilten gleiche Fälle unterschiedlich. Für die Autoren der Studie «scheinen die Entscheide willkürlich».
Ursula Schafroth von der Schweizer Gesellschaft der Vertrauens- und Versicherungsärzte erwidert, dass die Empfehlungen der Vertrauensärzte nicht auf «Zufall» beruhen würden. Die Vertrauensärzte der Kassen würden alle Gesuche nach einem einheitlichen Verfahren bearbeiten. Die Kassen ihrerseits kritisieren, dass der Bund die Hersteller nicht stärker in die Pflicht nimmt. Die Bearbeitung der Gesuche beschere den Kassen einen Mehraufwand von 20 Millionen Franken pro Jahr, sagt Santésuisse. Zudem müssten die Kassen für die Off-Label-Präparate oft zu viel zahlen. Grund: Stehen Produkte nicht auf der Liste der kassenpflichtigen Medikamente, müssen die Kassen den Preis mit dem Hersteller aushandeln.
Schlupfloch, um höhere Preise zu verlangen
Christof Kilchenmann von Santé-suisse klagt: «Manche Hersteller verlangen Mondpreise.» Es gebe schliesslich keine Alternative zu ihrem Präparat. Er klagt, dass manche Pharmafirmen «die Regelung missbrauchen».
Die Ärzte können die Präparate für nicht zugelassene Einsätze verschreiben. So wird die Off-Label-Regelung zum Schlupfloch, um sich der Preiskontrolle des Bundesamts zu entziehen. Zum Beispiel verzichtete die australische Firma Clinuvel darauf, ihr Präparat Scenesse in der Schweiz zuzulassen. Das Mittel soll gegen die seltene Lichtkrankheit helfen. Die US-Firma Verex beantragte für ihr Medikament Orkambi zwar eine Kassenzulassung, aber zu überrissenen Preisen. Sie weigert sich, die niedrigeren Preise des Bundesamts zu akzeptieren. Das Präparat könnte Kindern helfen, die an zystischer Fibrose leiden.
Santésuisse fordert: Nicht nur die Hersteller, sondern auch die Krankenkassen sollten Zulassungen für Medikamente beantragen dürfen. Helsana schlägt vor, dass künftig ein unabhängiges Gremium aus ärztlichen Experten die Gesuche bearbeitet. Das Bundesamt für Gesundheit bestätigt, dass für gewisse Therapien «höhere Preise vergütet werden», als wirtschaftlich vertretbar sei. Falls Firmen die Regelung «als Schlupfloch missbrauchten», wolle der Bund das unterbinden. Das Bundesamt untersucht den Off-Label-Einsatz in einer Studie, die Mitte 2020 erscheinen soll.
Die Hersteller sehen wenig Handlungsbedarf. Der Verband Interpharma kritisiert, dass das Bundesamt für Gesundheit Anträge auf Kassenzulassung für angeblich «innovative» Medikamente oft zu langsam bearbeite. Dadurch würden Off-Label-Gesuche nötig. Remo Christen von Roche erklärt, die Patienten erhielten durch Off-Label-Produkte schnellen Zugang zu neuen Medikamenten. Beiläufig erwähnt er, dass Roche kräftig mitverdient. Rund 5550 Gesuche des vergangenen Jahres betrafen Präparate von Roche.
Viele Off-Label-Medikamente bringen den Patienten nichts
Die Kassen zahlen auf Antrag der Ärzte auch für viele Arzneimittel, die keinen therapeutischen Nutzen haben. Das zeigten Forscher des Basler Unispitals, welche wissenschaftliche Studien zu beliebten Off-Label-Medikamenten auswerteten. Die Hersteller versuchen jeweils mit klinischen Studien zu belegen, dass ihre Präparate bei bestimmten Krankheiten wirksam und sicher sind. Die Basler Autoren fanden in den Studien jedoch keine Hinweise, dass das sehr oft verschriebene Off-Label-Medikament Azacitidin, ein Leukämiemittel, anderen Krebspatienten helfen könnte. Ebenso fehlten die wissenschaftlichen Belege dafür, dass Patienten vom Off-Label-Einsatz der Roche-Krebsmittel Mabthera und Tecentriq profitieren könnten. Die Kosten der Behandlungen belasten unnötig die Prämienzahler.