Wenn die 51-jährige Beatrice L. aus dem Raum Basel Schmerzmittel oder Kopfwehtabletten nimmt, klagt sie danach häufig über Magen- und Verdauungsprobleme. Ihr Partner hat dafür wenig Verständnis. Er verträgt die Medikamente meist gut. Das ist nichts Ungewöhnliches: Das Risiko von Nebenwirkungen von Arzneimitteln ist bei Frauen um rund 60 Prozent höher. Die Nebenwirkungen sind bei Frauen zudem heftiger. Das zeigte eine Auswertung britischer Forscher aus dem Jahr 1998 von 48 Studien mit über einer halben Million Patienten.
Für die Münchner Professorin für Medizinethik und -geschichte Mariacarla Gadebusch Bondio belegt dies, dass die Hersteller die Verträglichkeit ihrer Medikamente nicht ausreichend an Frauen geprüft haben.
Auch für die Basler Medizinprofessorin Elisabeth Zemp vom Schweizerischen Tropen- und Public Health-Institut kommen «Frauen in der Medikamentenforschung zu kurz». Viele neue Präparate würden vor der Zulassung überwiegend an Männern getestet, obwohl Frauen gleich oft oder öfter an den Krankheiten litten, gegen welche die Mittel helfen sollen.
Medikamententests mit Frauen sind viel aufwendiger
Grund für die verschiedene Wirkung der Mittel: Der Stoffwechsel von Männern und Frauen verarbeitet Medikamente teilweise unterschiedlich. Zum Beispiel wirkt Ibuprofen bei Frauen schwächer als bei Männern. Aspirin schützt Männer gegen Infarkt, Frauen gegen Schlaganfälle. Frauen sprechen nach einer Operation besser auf Opiate an als Männer.
Neuere US-Studien geben den Kritikerinnen recht: Laut einer Studie aus dem Jahr 2009 sind nur 30 Prozent der Probanden von Phase-I-Tests Frauen. Auch bei Tests ab Phase II liegt der Frauenanteil laut einer weiteren US-Studie mit 43 Prozent noch unter dem der Männer. So testen die Forscher zum Beispiel Medikamente gegen Aids, Hepatitis oder Thrombosen vergleichsweise wenig an Frauen. Viele Patientinnen bekommen heute zudem ältere Medikamente, die vor allem an Männern erprobt wurden. Dazu gehören laut Zemp viele Schmerzmittel, Psychopharmaka wie Antidepressiva, Krebsmedikamente oder Herz-Kreislauf-Mittel.
Ein Grund für die Vernachlässigung des weiblichen Geschlechts: Forscher schlossen jüngere Frauen lange aus Phase-I-Studien aus, weil diese während des Tests schwanger werden könnten und die Verantwortlichen sie dann aus Sicherheitsgründen aus der Studie ausschliessen müssten. Das war auch eine Reaktion auf den Contergan-Skandal, der Anfang der 1960er Jahre aufgedeckt wurde: Das millionenfach verkaufte Schlaf- und Beruhigungsmedikament Contergan konnte bei der Einnahme in der frühen Schwangerschaft die Entwicklung der Föten schädigen.
Ein weiterer Grund für die geringere Frauenbeteiligung ist laut Medizinethikerin Gadebusch Bondio, dass es für die forschenden Pharmaunternehmen billiger kommt, die Geschlechterfrage bei Tests auszuklammern. Hormonhaushalt und Stoffwechsel der Frauen sind grösseren Schwankungen unterworfen und unterscheiden sich erheblich von denen der Männer. Frauen reagieren auf Medikamente daher anders als Männer. Folge: Die Pharmafirmen müssten aufwendigere Studien durchführen, wenn sie Frauen stets berücksichtigen würden.
Für die Schweiz gibt es keine konkreten Zahlen. Laut der Leiterin der Klinischen Forschung am Unispital Basel, Christiane Pauli-Magnus, würden «bei grossen Medikamentenstudien der Phase III Frauen und Männer gleichermassen eingeschlossen». Bei Phase-III-Tests für Mittel gegen chronische Krankheiten wie Diabetes oder Krebs gebe es selten Probleme. Bei Phase-I-Tests seien Frauen unterrepräsentiert, weil die Tests häufig zeitintensiv und «eher für Männer ohne feste Arbeit attraktiv» seien.
Heute gibt es in den USA Vorschriften, wie hoch der Frauenanteil bei Studien sein muss. Dieser Grundsatz gilt auch in Österreich. Hier bekommen Medikamente, die Frauen und Männern verschrieben werden, nur dann eine Zulassung, wenn bei den Tests mindestens 40 Prozent Frauen mitmachten.
Schweiz: Pharma macht keine Angaben über Frauenanteil bei Tests
Die Schweizer Aufsichtsbehörde Swissmedic weiss hingegen nicht einmal, wie gross der Frauenanteil an den über 200 Tests im Inland ist, die sie pro Jahr genehmigt. Unbekannt ist auch das Geschlecht der 600 000 Versuchstiere, die in Schweizer Labors pro Jahr ihr Leben lassen.
Medizinprofessorin Zemp fordert verbindliche Vorgaben für die Forscher. An jeder Arzneimittelstudie müssten «so viele Frauen teilnehmen, dass die Ergebnisse auch für sie gelten».
Laut Zemp wäre das auch für die Hersteller von Vorteil: So wurden von 1997 bis 2000 zehn Medikamente wegen Nebenwirkungen vom US-Markt genommen. Acht davon hatten stärkere Nebenwirkungen bei Frauen als bei Männern. Mit mehr Frauen unter den Testpersonen hätte man riskante Medikamente womöglich vorab erkennen können.
Novartis will sich auf Anfrage nicht zum Thema äussern. Roche erklärt, bei Tests zu nicht geschlechtsspezifischen Medikamenten auf eine «gute Verteilung» nach Geschlecht zu achten. Allzu ernst scheint der Konzern das Thema aber nicht zu nehmen. Über «konkrete Auswertungen der letzten Jahre» zum Geschlecht der Testpersonen verfüge man nicht.
Forschung: So werden Medikamente getestet
Am Anfang testen Forscher Wirkstoffe im Labor an Zellen, später an Tieren. Fallen die Laborversuche erfolgversprechend aus, beginnen Menschenversuche.
- In Tests der Phase I verabreichen die Forscher ein neues Mittel meist einem Dutzend gesunder Freiwilliger.
- In Phase II erhalten in der Regel Hunderte oder Tausende von Patienten, die an der Krankheit leiden, das Mittel. Die Forscher können erst jetzt sehen, ob das neue Medikament etwa zur Blutdrucksenkung bei Patienten mit hohem Blutdruck tatsächlich wirkt und wie oft Nebenwirkungen auftreten.
- In Phase III vergleicht man in sogenannten «randomisierten, kontrollierten Studien» die Ergebnisse einer Gruppe von Patienten, die das Medikament einnehmen, mit denen einer Kontrollgruppe von Testpersonen, die ein Plazebo oder ein anderes Mittel erhalten.
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