Jelena Blicava, 37, sitzt in einem Café in der lettischen Kleinstadt Ogre neben ihrem Mann Maris und isst Apfelkuchen. Eine gutaussehende Frau mit langen Haaren und offenem Lächeln. Es ist schwer vorstellbar, dass sie vor einigen Monaten mit dem Tod rang.
Jelenas Leben änderte sich Ende 2014, als sie wegen starker Bauchschmerzen ins Spital kam. Die Ärzte diagnostizierten Dickdarmkrebs in fortgeschrittenem Stadium. Die Operation verlief erfolgreich. Die Ärzte empfahlen ihr eine weitere Behandlung mit dem neuen Krebsmedikament Avastin des Schweizer Herstellers Roche – zwölf Dosen à drei Ampullen alle zwei Wochen. Die staatliche Krankenversicherung Lettlands übernimmt die Kosten dafür nicht. Das Ehepaar war schockiert, als es den Listenpreis des Krebsmittels erfuhr: 586 Franken. Inklusive Apothekenrabatt hätte das Paar 460 Franken zahlen müssen.
Erspartes aufgebraucht und Geld geborgt
Die Familie hätte somit für die Medikamente alle zwei Wochen 1380 Franken aufbringen müssen. Das Paar und seine zwei Kinder müssen aber von rund 1200 Franken im Monat leben. Für Maris war trotzdem klar: «Wir müssen dieses Geld irgendwie auftreiben.» Sie brauchten ihre Ersparnisse auf, borgten Geld bei Verwandten und Freunden. So zahlten sie die ersten zwei Dosen. Maris’ Arbeitgeber übernahm zwei weitere Dosen, Roche gab zwei gratis ab. Das Paar hatte Glück: Sechs Dosen reichten. Maris sagt: «Wir hätten nicht gewusst, wie wir weitere sechs Dosen hätten bezahlen können.»
Vielen Krebspatienten in Osteuropa ergeht es ähnlich. Die staatlichen Krankenversicherer übernehmen ihre Medikamentenkosten nicht. Das ist kein Wunder: Weltweit verdoppelten sich laut der Weltgesundheitsorganisation die Kosten neuer Krebspräparate in den letzten zehn Jahren von 5500 auf 11 000 Franken pro Monat.
58 Franken pro Krebspatient
Osteuropäische Länder geben nach den neusten Zahlen rund 200 Franken pro Jahr und Patient für Medikamente aus. Zum Vergleich: Die Schweizer Krankenkassen gaben 2014 laut dem Helsana-Arzneimittelreport allein für Krebspräparate 4824 Franken pro Patient aus.
In Lettland ist deshalb den meisten Krebskranken der Zugang zu neueren Medikamenten vorenthalten. Die Regierung liess sich zum Beispiel über zehn Jahre Zeit, um das teure Brustkrebsmittel Herceptin von Roche für die Rückerstattung durch die Krankenkasse zuzulassen. Patienten werden zurzeit von der staatlichen Krankenversicherung NHS nur fünf der in Europa normalerweise erstatteten dreissig neuen Krebsmittel bezahlt. Inese Kaupere vom NHS rechtfertigt das mit dem begrenzten Budget und den zu hohen Preisen, welche die Hersteller verlangen: «Diese sind inkompatibel mit unserer Kaufkraft.»
«Wir schämen uns vor unseren Kollegen»
Wer das Pech hat, an Dickdarm-, Lungen- oder Hautkrebs zu erkranken, wird mit veralteten Therapien behandelt. Der Chef der lettischen Vereinigung der Chemotherapeuten, Gunta Purkalne, sagt: «Wir schämen uns, wenn wir Kollegen im Ausland verraten, welche Medikamente wir benutzen.»
Die Regierung konnte bei den Herstellern, deren Medikamente die Krankenkasse erstattet, zwar Rabatte herausholen. Doch die Pharmahersteller setzten durch, dass die Rabatte geheim und die offiziellen Preise unverändert hoch bleiben (siehe unten). Krebsmittel wie Kadcyla oder Perjeta, die der Staat nicht zahlt, kosten in den Apotheken mindestens so viel wie in den reichen Ländern Westeuropas. Das zeigt ein Vergleich der Listenpreise der lettischen Agentur für Heilmittel mit Preisen in der Schweiz und Grossbritannien. Pro Monat verdienen die Letten aber im Durchschnitt nur 780 Franken.
Die Ärztin Signe Plate vom lettischen Onkologiezentrum kennt über zwanzig Patienten, die sich Avastin kaufen. Einige mussten dafür ihre Häuser verkaufen. Anders macht es Karlis Liepins (Name geändert). Im Juli 2015 erhielt der 32-Jährige die Diagnose Dickdarmkrebs. Nach dem Eingriff rieten ihm die Ärzte ebenfalls zur Avastin-Behandlung. Liepins hat einen drei Jahre alten Sohn, das Familieneinkommen beträgt 1100 Franken im Monat. Er unterzieht sich nun einer günstigeren Chemo. Aber die letzten Resultate zeigten, dass sie nicht wirksam genug ist. Er bräuchte Avastin, aber: « Ich kann es mir nicht leisten.»
Bulgarien: 1034 Mittel gestrichen
Ähnlich die Situation in Bulgarien. Am 6. Januar 2016 bekam Brustkrebspatientin Elitsa ihre zweite Chemotherapie und dafür eine Rechnung über 14 Franken für ein älteres und relativ günstiges Mittel. Ihre erste Chemo im Dezember war noch gratis. Seit 2016 erstattet die staatliche Krankenversicherung NHIF ihr Medikament und 1033 weitere Präparate nicht mehr. Sie muss sparen.
Braucht ein Patient eines der gestrichenen Medikamente, muss er selbst dafür aufkommen. Das gilt auch für zwölf Krebsmittel, für die es laut Stoycho Katsarov vom Zentrum zum Schutz der Rechte im Gesundheitswesen keinen Ersatz gibt.
Viele dieser Krebsmedikamente sind ältere, eher günstigere Präparate. Medikamente der neueren Generation sind für bulgarische Normalverdiener mit ihrem Durchschnittslohn von 500 Franken im Monat ohnehin nicht erschwinglich: Von zwanzig gängigen Krebsmitteln kosten laut einem Report der Weltbank acht Präparate in Bulgarien mehr als in Grossbritannien. Nur drei sind billiger, der Rest etwa gleich teuer.
Rumänien: Krebsmittel kaum erhältlich
Rumäniens rund 110 000 Krebspatienten erhalten oft gar keine Medikamente. Die staatliche Krankenversicherung CNAS hat seit fünf Jahren fast keine neuen Krebsmittel als erstattungswürdig anerkannt. Von 2008 bis 2013 waren 25 bewährte wichtige Krebsmedikamente im Land nicht erhältlich. Viele sind heute noch nicht verfügbar, sagt Alexandru Eniu vom Krebsinstitut Ion Chiricuta in Cluj-Napoca.
Neue Wirkstoffe oft nicht verfügbar
Erste Ergebnisse einer Studie der europäischen Gesellschaft für medizinische Onkologie aus dem letzten Jahr zeigen: Neuere Wirkstoffe gegen Tumore sind in Ost- und Südeuropa viel seltener verfügbar als in West- und Nordeuropa. Es fehlen vor allem Medikamente zur Behandlung von schwarzem Haut-, Nierenzell- und gewissen Formen von Lungen- und Darmkrebs.
Laut der Nichtregierungsorganisation Health Action International in Amsterdam verkaufen Apotheken und Spitäler in Osteuropa häufig auch keine Generika. Das zwingt Patienten, die teuren Originale zu kaufen.
Das trägt dazu bei, dass die Überlebenschancen von Krebskranken in Osteuropa 40 Prozent tiefer sind als jene von Patienten im Westen. Das besagt eine Studie der europäischen Vereinigung der Krebspatienten.
Mitverantwortlich für diese Misere ist die Hochpreispolitik von Konzernen wie Roche, Novartis und Sanofi, den weltweit grössten Herstellern von Krebsmitteln. In ihren Konzernzentralen in Basel oder Paris tüfteln Hunderte von Spezialisten an Preisstrategien, lange bevor ein Produkt auf den Markt kommt. Die Zentrale schreibt nationalen Filialen Mindestpreise für neue Produkte vor. Das sagen Insider, die saldo interviewte.
Sie erwähnen auch, dass die Hersteller bei der Markteinführung eines neuen Krebsmittels lieber auf die Rückerstattung durch die staatliche Krankenversicherung verzichten, als zu niedrige Preise zu akzeptieren. So können sie ihre Präparate so teuer verkaufen, wie sie wollen. Viele kosten dann nicht nur in den baltischen Staaten, sondern auch in Bulgarien, Polen, Zypern oder Malta gleich viel oder sogar mehr als in Westeuropa.
Das belegen Preisvergleiche und Studien. So muss ein lettischer Hautkrebspatient gemessen am Pro-Kopf-Einkommen seines Landes 9-mal mehr für das Roche-Präparat Zelboraf ausgeben als ein Schweizer Patient.
Kaufkraft muss ein Preiskriterium sein
Roche und Novartis erklären, dass sie ihre Preise mit den nationalen Behörden abstimmen und dabei ihre Forschungskosten, die ökonomische Lage des Landes sowie den Nutzen des Produkts für Patienten und Gesellschaft berücksichtigen. Novartis behauptet, dass man Patienten helfe, Zugang zu nötigen Medikamenten zu bekommen. Roche sagt, man sei offen für neue Preislösungen.
Die EU ist alarmiert. Die Europäische Kommission hat zwei Studien zu den negativen Folgen von Auslandpreisvergleichen (siehe Tabelle im PDF) in Auftrag gegeben. Die letzte ist noch nicht veröffentlicht. Autorin ist die österreichische Gesundheitsökonomin Sabine Vogler. Sie fordert erschwingliche Arzneimittelpreise, in denen sich auch die Kaufkraft eines Landes widerspiegelt.
Deshalb verlangen Pharmafirmen in armen Ländern hohe Preise
Grosse Pharmakonzerne wie Roche und Novartis verkaufen neue Medikamente in ärmeren Ländern Osteuropas aus zwei Gründen möglichst teuer:
Gibt es massive Preisunterschiede, exportieren Zwischenhändler günstige Präparate etwa aus Rumänien oder Bulgarien wieder nach Westeuropa. Das schmälert den Umsatz der Hersteller.
Die Hersteller fürchten die Auslandpreisvergleiche. Dabei schauen sich Behörden eines Landes an, was ein Medikament in anderen Ländern kostet. Erst dann setzen sie den Preis im eigenen Land fest oder überprüfen ihn. Portugal berücksichtigt 3 Länder, Polen 31, die Schweiz 9. Die Hersteller fürchten Kettenreaktionen.
Beispiel Griechenland: Eine Studie des europäischen Verbands der pharmazeutischen Industrie von 2012 zeigt, dass die Hersteller bei einer Senkung der Medikamentenpreise in Griechenland um 10 Prozent im Land selbst 331 Millionen Franken Umsatz pro Jahr verlieren. Europaweit würden sie 883 Millionen Franken und weltweit 2,4 Milliarden Franken pro Jahr einbüssen. Grund: Die Preissenkung in Griechenland drückt wegen des Auslandpreisvergleichs indirekt die Preise etwa in Italien, der Türkei, Portugal und Brasilien.
Dieser Artikel entstand mit der Unterstützung des Journalismfund.eu