Bei einer korrekten Bedienung des Fahrtenschreibers hätte ich an langen Arbeitstagen mit einer Anzeige rechnen müssen», erklärt der Chauffeur der Einzelrichterin. Deshalb habe er am Gerät verschiedentlich Lade- und Wartezeiten als «Pause» deklariert. Nur so sei es ihm möglich gewesen, die Vorgaben der Chauffeurverordnung einzuhalten. Die Verordnung legt fest, wie lange ein Berufsfahrer hinter dem Lenkrad sitzen darf und wann er Pause machen muss. Doch Pause habe er in diesen angeblichen «Pausen» nicht gemacht, sagt der 58-Jährige, sondern gearbeitet. Dafür stehe ihm Lohn zu. Zur Beurteilung der Arbeitszeit seien die Einsatzpläne heranzuziehen, nicht die Stunden gemäss Fahrtenschreiber.
Chauffeur: «Schummeln mit Fahrtenschreibern ist gang und gäbe»
Sein Ex-Chef ist ein alter Fuchs in der Branche. Der hagere Mann sitzt in einer leicht abgewetzten Lederjacke auf der Beklagten-Seite. Die Worte des Chauffeurs quittiert er mit Kopfschütteln und einem Seufzer. «Es fiel gar keine Überzeit an», behauptet er. Für ihn gibt es keinen Grund, dass die Auswertung des Fahrtenschreibers nicht massgeblich sein soll. «Wir legen Wert darauf, dass alle Fahrer die Arbeits- und Ruhezeitvorschriften kennen und in eigener Verantwortung einhalten», betont er. Ist der Lastwagen in Bewegung, erfasst das Gerät automatisch die Fahrzeit. Steht der Lastwagen, so muss der Fahrer einstellen, ob es sich um Arbeitszeit mit Laden/Entladen, um Bereitschafts-/Wartezeit oder um Pause/Ruhezeit handelt.
Der Chauffeur bestätigt der Richterin, dass laut Arbeitsvertrag jeder Chauffeur selbst dafür verantwortlich ist, die Lenk- und Ruhezeiten einzuhalten. Doch damit schiebe das Unternehmen ein unlösbares Problem auf die Chauffeure ab. Es sei schlicht unmöglich, die Vorschriften bei den vorgegebenen Einsätzen einzuhalten. «Wenn ich den Fahrtenschreiber korrekt bediene und etwa Lade- und Entladezeiten richtig angebe, kriege ich Probleme mit der Polizei», sagt er. Schummeln sei gang und gäbe. Kollegen beim früheren Arbeitgeber hätten sogar gleichzeitig zwei Karten für den Fahrtenschreiber eingesetzt, um überlange Fahrzeiten zu verschleiern.
Chef: «Wenn jemand schummelt, ist das sein Problem»
«Wir haben nie verlangt, dass er beim Auf- oder Abladen auf Pause stellt», entgegnet der Ex-Chef, «wenn das aber ein Chauffeur aus eigenem Antrieb tut, um die Chauffeurverordnung einzuhalten, dann ist es sein Problem, nicht unseres.»
Solche Schlaumeiereien will sich der Kläger nicht gefallen lassen und spricht mit der sogenannten Bereitschaftszeit gleich ein weiteres Problem an. In der Branche gibt es dafür meist keinen Lohn. Gemäss der Chauffeurverordnung muss die Bereitschaftszeit und ihre voraussichtliche Dauer aber dem Fahrer bekannt sein, «andernfalls gilt diese Zeit als Arbeitszeit». Der 58-Jährige war früher oft für einen Paketdienst im Einsatz. «Da musste man jederzeit losfahren können, um Päckli zu holen», erzählt er. Von Freizeit konnte keine Rede sein, deshalb mussten diese Wartezeiten auch entschädigt werden.
Insgesamt fordert der Chauffeur von seinem letzten Arbeitgeber Lohn in der Höhe von 1600 Franken. Dazu kommen weitere Beträge, unter anderem 200 Franken fürs Wagenwaschen. Weil er dabei – anders als verlangt – Selbstbedienungsanlagen nutzte, die keine Quittung ausgeben, hat er die Auslagen nie zurückerstattet bekommen.
Versicherung zahlte – Arbeitgeber gab das Geld nicht weiter
Wie stur der Arbeitgeber ist, zeigt eine weitere Episode. Dank hartnäckiger Nachfragen der Richterin zeigt sich, dass der Transportunternehmer den Fall seiner Rechtsschutzversicherung meldete. Diese überwies ihm als pauschale Abgeltung 1500 Franken. «Weshalb haben Sie das Geld nicht an den Chauffeur weitergeleitet?», wundert sich die Richterin. Der Ex-Chef bleibt ungerührt: «Ich sehe nicht ein, weshalb – wäre er im Recht, so hätten wir bezahlt, doch es liegt ja andersrum.»
Die Richterin verzichtet auf weitere Abklärungen und schlägt einen Vergleich vor. Der Arbeitgeber soll seinem früheren Chauffeur pauschal 1000 Franken überweisen, fast zwei Drittel der Forderung. Nach einigem Hin und Her willigen beide Seiten ein.
Prozessieren - Beweise: Richter haben grossen Spielraum
Klar ist: Wer arbeitet, hat Anspruch auf Lohn. Das gilt auch für Überstunden. Und wer den Betrieb einklagt, weil er angeblich zu wenig Lohn erhielt, muss seine Überstunden nachweisen.
Schriftliche Unterlagen oder bei Chauffeuren ein Fahrtenschreiber sind als Beweismittel häufig ideal. Ist deshalb eine Klage aussichtslos, wenn aus einem Dokument etwas anderes hervorgeht, als der Arbeitnehmer vor Gericht behauptet?
Nicht unbedingt. Denn Richter dürfen die Beweise frei würdigen. Dabei haben sie einen grossen Spielraum. Wenn aus den Umständen beispielsweise hervorgeht, dass die Aufzeichnungen eines Fahrtenschreibers nicht vollständig sind, können die Richter die Zahl der Überstunden auch schätzen.