Zusammen mit seinem Anwalt betritt der ehemalige Versicherungsvertreter den Gerichtssaal. Der 63-Jährige wirkt ruhig, aber entschlossen. Mit seiner Klage gegen die Ex-Arbeitgeberin fordert er 72 000 Franken für entgangene Löhne bis zur Pensionierung. Dabei geht es nicht um den Arbeitsvertrag, sondern um eine Erwerbsunfähigkeitsversicherung, die er privat bei der Versicherung abgeschlossen hatte. Versichert war eine monatliche Rente von 2000 Franken für den Fall, dass er über längere Zeit wegen Unfall oder Krankheit nicht arbeiten kann.
Der Mann ist nach mehreren Operationen nur noch eingeschränkt arbeitsfähig. Er leidet zudem unter den Nebenwirkungen von Medikamenten, die zur Schmerzbekämpfung nötig sind.
Auf der Gegenseite nimmt eine Mitarbeiterin der Versicherung Platz, neben ihr der beauftragte Rechtsanwalt der Gesellschaft.
Zunächst verweigerte die Versicherung jede Zahlung aus der Police. Als dann die Klage des 63-Jährigen auf dem Tisch lag, spielte sie auf Zeit. Der Anwalt beantragte beim Gericht mehrfach eine Erstreckung der Fristen. Das Gericht bewilligte die Gesuche, was zu monatelangen Verzögerungen führte. Nun, zwei Jahre nach Einreichen der Klage, liegt endlich ein medizinisches Gutachten vor. Es wurde vom Gericht in Auftrag gegeben und zeigt: Für die Versicherung wird es eng.
«Das 74-seitige Gutachten ist umfassend, nachvollziehbar und schlüssig», hält der Einzelrichter fest. Die Gutachter seien zum Schluss gekommen, dass die Arbeitsfähigkeit des 63-Jährigen aus medizinischen Gründen dauerhaft um 20 bis 30 Prozent eingeschränkt sei. Dazu komme eine zusätzliche Beeinträchtigung wegen einer Schlafapnoe. Bei dieser Krankheit setzt während des Schlafs plötzlich kurz der Atem aus.
Ein Versprechen geht vergessen
Diese Einschätzung stärkt die Position des Klägers, der seit dem Jahr 2010 zwischen 40 und 50 Prozent Erwerbsunfähigkeit geltend macht. Damals wurde er wegen angeblich mangelnder Arbeitsleistung und nach fast 25 Jahren Betriebstreue ohne Ankündigung entlassen – wenige Monate bevor ein Dienstaltersgeschenk von 10 000 Franken fällig geworden wäre. Zuvor war er bereits krankheitsbedingt versetzt worden. Einer seiner Chefs hatte ihm versichert, man werde ihn nicht im Stich lassen. Nach der Pensionierung dieses Chefs ging das Versprechen offenbar vergessen.
So fundiert das Gutachten auch ist: Einen Haken hat die Sache. Die Bestimmungen der Police besagen nämlich, dass eine Rente erst ab einer Erwerbsunfähigkeit von 25 Prozent geschuldet ist. Diese Schwelle ist tückisch. «Das Gutachten vermag keine völlige Klarheit zu verschaffen», so der Richter. Es sei möglich, dass nach der vertieften Prüfung des Falls eine Erwerbsunfähigkeit von weniger als 25 Prozent bleibe. Andererseits sei genauso gut denkbar, dass zeitweise sogar 50 Prozent resultierten. «Damit ist die Ausgangslage ideal für einen Vergleich», so der Richter.
Mehrere und zähe Verhandlungsrunden
Der Anwalt der Versicherung pflichtet ihm bei: «Wir sind bereit zu Vergleichsgesprächen.» Der Kläger stimmt ebenfalls zu. Und so verhandelt der Richter mit den Parteien hinter verschlossenen Türen. Zuerst mit der einen Seite, dann mit der anderen. Es folgen mehrere, zähe Verhandlungsrunden.
Es schlägt zwölf Uhr. Die übrigen Gerichtsangestellten gehen in den Mittag, die Vergleichsgespräche gehen weiter. Die Versicherung willigt am Schluss in eine Zahlung von 41 000 Franken ein. Das entspricht einer Erwerbsunfähigkeit von 25 Prozent bis zum Pensionsalter. Die Gerichtskosten werden geteilt.
Der Kläger stimmt dem Vergleich eher zähneknirschend zu. «Man zieht praktisch immer den Kürzeren, wenn man keine Rechtsschutzversicherung hat», sagt er. Immerhin steht ihm nun rasch etwas Geld zur Verfügung. Damit kann er seinen Lebensunterhalt bis zum Eintreffen der ersten Altersrente bestreiten und ist nicht mehr länger auf die Sozialhilfe angewiesen.
Prozessieren: Gutachter sind faktisch Richter
Wer auf Taggelder oder Renten klagt, muss vor Gericht beweisen können, dass er Anspruch darauf hat, also mindestens teilweise nicht erwerbsfähig ist. Das kann er nur mit einem ärztlichen Gutachten.
Lohnt es sich deshalb, selbst ein Gutachten zu organisieren? Nicht unbedingt. Denn ein Parteigutachten wird in der Regel durch ein Gutachten der Gegenpartei bestritten. Deshalb kommt das Gericht nicht darum herum, ein drittes Gutachten einzuholen – sodass sich die Parteien eigentlich ihre Expertisen schenken könnten.
Bei der Wahl des Gutachters durch das Gericht können die Parteien mitreden. Dasselbe gilt bei der Formulierung der Fragen an den Gutachter. Das Ergebnis ist für den Ausgang des Verfahrens zentral. Theoretisch entscheidet zwar das Gericht. Aber es schliesst sich in der Regel den Ergebnissen der vom Gericht beauftragten Experten an.