Vordergründig ist ja nichts dagegen einzuwenden, wenn Geschäftsbetreiber dafür sorgen, dass weniger gestohlen wird. Das ist im Interesse aller ehrlichen Kunden. Aber: Moderne Videoüberwachungssysteme machen Fehler. Genauso wie Sicherheitsleute.
Das musste eine St. Galler Studentin erfahren. Sie wollte die Einkäufe für ihre Wohngemeinschaft und für sich persönlich in der Migros separat bezahlen. Zum einen an der Self-Checkout-Kasse, zum anderen an der Self-Scanning-Kasse. Noch bevor sie fertig war, wurde sie in ein Büro gebeten. Dort eröffneten ihr die Migros-Angestellten, dass sie ein Video besässen, das die Studentin bei einem früheren Ladendiebstahl zeige. Sie bekam eine Busse von 200 Franken aufgebrummt. Und ein Hausverbot für alle Filialen der Migros Ostschweiz.
Bis zu 80 Kameras in einer Filiale installiert
Nicht auszudenken, wenn die Migros das Hausverbot auf Tochterfirmen wie Denner, SportXX, Interio und Ex Libris ausgeweitet hätte. Oder wenn sie sich mit Coop darüber austauschen würde und auch andere Firmen davon erführen. Wenn der angebliche Ladendiebstahl zu einem Problem bei der Stellensuche würde.
Denn die Studentin hatte nicht gestohlen, weder beim ersten noch beim zweiten Mal. Das konnte sie beweisen. Die Migros-Verantwortlichen entschuldigten sich für den Irrtum. Sie mussten die Busse zurücknehmen. Und auch das Hausverbot.
Derartige Fehler dürften sich künftig häufen. Denn die Ladenbetreiber rüsten auf. In der kleinen Coop-Filiale im Berner Bahnhof hat saldo 14 Kameras entdeckt. Und in der Migros-Filiale gleichenorts sogar deren 23. Die holländische Supermarktkette Jumbo hat Filialen mit 80 Kameras. Und die sind nicht einfach nur zum Filmen da. Die Möglichkeiten – das zeigen die Websites der Kamera- und Software-Anbieter Panasonic und Avigilon – sind beängstigend:
- Hochauflösende Kameras sind in der Lage, Gesichter zu erkennen.
- Sie gleichen die Gesichter sogleich mit bis zu 30 000 Gesichtern in der Datenbank ab.
- Erkennt das System einen vermeintlichen oder einen tatsächlichen Ladendieb, schlägt es Alarm.
- Oder es verfolgt den Verdächtigen auf Schritt und Tritt. Der Kunde wird von einer Kamera an die nächste übergeben.
- Die Bilder können sogar mit Kassendaten abgeglichen werden.
Das System erkenne Gesichter wieder, auch wenn sie um bis zu zehn Jahre gealtert seien, preist Panasonic ihr Produkt an. Selbst Aufnahmen von der Seite (bis 45 Grad) seien kein Problem. Ebenso wie Bewegungsunschärfe und schlechtes Licht. Panasonic gibt aber auch zu: Wenn jemand eine Sonnenbrille trage oder ein Halstuch vor dem Gesicht, dann sinke die Trefferquote auf 90 Prozent.
Noch vor fünf Jahren sagte ein Migros-Sprecher zu saldo: «Der Nachweis, dass die Diebstahlquote durch Kameras gesenkt werden konnte, lässt sich nur schwer erbringen.» Die Skepsis scheint verflogen zu sein. Mittlerweile analysiert der orange Riese seine Kunden in gewissen Filialen bezüglich Kleidung, Haarfarbe, Körpergrösse und Geschlecht. In einer Zürcher Filiale sind dafür 74 Kameras angebracht. Künftig sollen auch auffällige Merkmale wie Rucksäcke oder Taschen hinzukommen.
Fällt ein Kunde auf, kann ein Detektiv frühere Aufnahmen nach bestimmten Kriterien filtern. So sieht er rasch, wann der Kunde im Laden war, wie lange er sich wo aufhielt, wo und wie er den Laden verliess. «Und wenn es ganz optimal läuft, haben wir sogar eine Autonummer», sagte ein Migros-Sicherheitsbeauftragter der deutschen «Lebensmittel-Zeitung».
Die Bilder sollen sehr genau sein. «Ich kann genau erkennen, ob jemand eine teure Creme nur in die Hand genommen hat, hin und her gedreht und dann doch wieder zurückgestellt hat oder ob er sie in die Jacke oder die Handtasche hat fallen lassen», erklärte er weiter.
Gegenüber Schweizer Medien gibt sich die Migros weniger auskunftsfreudig. Offen bleibt daher, wo die Überwachungssoftware bereits im Einsatz ist. Immerhin sagt die Migros klipp und klar, dass sie nicht mit Gesichtserkennung arbeite. Das gilt auch für Aldi und Lidl. Offen ist hingegen, wie Coop überwacht. Auf Anfrage von saldo sagt die Firma: «Wir äussern uns grundsätzlich nicht öffentlich zu sicherheitsrelevanten Aspekten.»
Worauf die Sicherheitssysteme beim Selfscanning achten
Klar ist hingegen, dass die Detailhändler ihre Kunden auch ohne Kameras überwachen können. Und zwar am einfachsten beim Selfscanning. Dabei scannen die Kunden – mit einem geliehenen Handlesegerät oder mit dem eigenen Handy – die Ware bereits im Ladeninnern ein. Die Sicherheitssysteme analysieren dabei:
- Ist der Kunde sehr lange im Laden, scannt aber nur wenig?
- Verstreicht zwischen zwei Scan-Vorgängen verdächtig viel Zeit?
- Scannt der Kunde nur günstige Ware?
- Storniert er Artikel? Womöglich teure?
- Erkennt der Scanner auffällig häufig den Strichcode nicht?
- Verbringt der Kunde viel Zeit in Hochpreiszonen wie etwa im Fleisch- oder Kosmetikrayon – und scannt in dieser Zeit keine Ware?
- Vergeht zwischen dem letzten Scan und dem Bezahlen ungewöhnlich viel Zeit?
Verhält sich der Kunde auf diese Art «verdächtig», löst das System einen Alarm aus. Und dann können die Sicherheitsleute den Kunden einer Kontrolle unterziehen. Eine automatisierte Verdachtsmeldung reicht bereits.
Niemand kontrolliert, was mit den Videoaufnahmen passiert
«Die Videoüberwachung muss transparent, das heisst klar erkennbar sein.» Das schreibt der Eidgenössische Datenschutzbeauftragte in einem Merkblatt. Und weiter: «Die Betroffenen müssen darüber informiert werden, dass sie gefilmt werden, bevor sie den Aufnahmebereich der Kamera betreten.» Dazu könne beispielsweise ein Hinweisschild dienen. Zudem hält er fest: «Die Bilder müssen gelöscht werden, wenn sie nicht mehr benötigt werden – in der Regel nach 24 Stunden.» Daran halten sich die Schweizer Detailhändler nicht. Aldi löscht die Daten erst nach drei Tagen, die Migros nach sieben Arbeitstagen und Lidl nach 30 Tagen. Coop macht dazu keine Angaben.
Ein Sprecher des Datenschutzbeauftragten relativiert: «Die Aufnahmen müssen innert einer zumutbaren Frist gesichtet werden.» Deshalb seien Ausnahmen von der 24-Stunden-Regel möglich. Dass die Aufnahmen dann tatsächlich gelöscht werden, liege «in der Verantwortung des Datenbearbeiters». Das heisst: Niemand kontrolliert.