saldo: Jeder Krankenversicherte zahlte im vergangenen Jahr durchschnittlich 194 Franken allein für die Verwaltungskosten seiner Krankenkasse. Vor 20 Jahren waren es 69 Franken weniger. Haben die Krankenkassen die eigenen Kosten nicht im Griff?
Verena Nold: Im Gegenteil. Von 100 Franken Prämieneinnahmen geben wir 5 Franken für die Verwaltung aus und 95 Franken für die Bezahlung medizinischer Behandlungen. Der Verwaltungsaufwand ist gestiegen und trotzdem sind die Kosten prozentual gesunken. Der gesetzlich vorgeschriebene Datenschutz ist zum Beispiel kostspieliger geworden. Wir haben auch die Cybersicherheit ausgebaut, um die Daten der Patienten zu schützen. Und wir kontrollieren jedes Jahr über 120 Millionen Rechnungen und sparen so drei Milliarden Franken ein.
Seit 1. Januar 2022 müssen alle Patienten nach einer Behandlung eine Rechnungskopie erhalten. Der Berner Gesundheitsökonom Heinz Locher erwartete dadurch Einsparungen von 230 Millionen Franken pro Jahr. Funktioniert das wirklich?
Nein. Die Massnahme hat bis heute keinen spürbaren Spareffekt. Viele Spitäler weigern sich, Rechnungskopien an Patienten zu schicken. Im Gesetz sind keine Bussen für fehlbare Leistungserbringer vorgesehen.
Sanitas-Chef Andreas Schönenberger hat im letzten Jahr 954'486 Franken verdient. Die Chefs der Groupe Mutuel, von CSS, Assura, Visana, Swica, KPT und Concordia bekamen 2021 über 500'000 Franken Lohn (saldo 14/2022). Warum müssen die Prämienzahler im Rahmen einer obligatorischen Versicherung solche Lohnexzesse der Krankenkassenchefs finanzieren?
Ich verstehe, dass man sich darüber ärgern kann. Chefs von Krankenkassen, die so viel verdienen, bekommen ihren Lohn aber auch aus der Zusatzversicherung. Wenn sie nur die Hälfte verdienen würden, hätte das auf die Prämien fast keine Auswirkung. Wer sich über ein Salär ärgert, kann ja zu einer Krankenkasse wechseln, deren Chef einen bescheideneren Lohn bezieht. Wie viel jemand erhält, steht im Geschäftsbericht.
Ihren Jahreslohn findet man im Geschäftsbericht nicht. Die «Luzerner Zeitung» schätzte ihn auf rund 300'000 Franken. Wie viel erhalten Sie?
Wir veröffentlichen die Löhne unserer Angestellten nicht.
Heute müssen die Prämienzahler insgesamt 44 Krankenkassenverwaltungen finanzieren. Unter dem Strich liessen sich durch eine Einheitskasse allein bei den Cheflöhnen geschätzte 15 Millionen Franken einsparen. Was sagen Sie dazu?
Warum sollte eine Einheitskasse günstiger sein? Die Unfallversicherung (Suva) hat Verwaltungskosten von 12 Prozent und nicht nur 5 Prozent wie die Krankenkassen.
Sie vergleichen Äpfel mit Birnen. In den Suva-Verwaltungskosten sind Ausgaben für Betriebskontrollen, Präventionskampagnen und Gutachterkosten zur Invalidität und lebenslangen Renten enthalten.
Die Suva muss allerdings auch viel weniger Fälle bearbeiten als die Krankenkassen.
Die Verwaltungskosten der Krankenkassen beliefen sich im letzten Jahr auf 1,7 Milliarden Franken, die der Suva auf weniger als 600 Millionen. Die Kassen gaben im letzten Jahr 73 Millionen Franken allein für Werbung aus, obwohl alle in der Grundversicherung die genau gleichen Leistungen bezahlen müssen. Warum sollen Versicherte zum Beispiel das Krankenkassen-Sponsoring von Spitzenfussballern mitfinanzieren?
Wen das stört, der kann zu einer Krankenkasse gehen, die keine Werbung und kein Sponsoring macht.
Stören Sie die Werbeausgaben der Krankenkassen persönlich denn nicht?
Nein. Das gehört dazu, um die Angebote der Kassen bekannt zu machen. Alle Werbeausgaben zusammen haben keinen spürbaren Effekt auf die Gesamtkosten der Kassen.Hier liessen sich nur 0,2 Prozent der Prämien einsparen. Es sind die Gesundheitskosten, welche die Prämien hochtreiben.
Im letzten Jahr hatten neun der zehn grössten Krankenkassen rund 2,5 Milliarden Franken mehr Reserven als gesetzlich vorgeschrieben («K-Tipp» 13/2023). Wozu horten sie so viel Geld der Prämienzahler?
Zum Glück haben wir den Puffer, damit konnten die Kassen Prämienschocks in der Vergangenheit vermeiden. Aktuell belaufen sich die Reserven auf 7 Milliarden Franken. In der Grundversicherung werden 36 Milliarden Franken pro Jahr umgesetzt. Die Reserven reichen also nur zwei bis vier Monate.
Ein grosses Ärgernis für viele Versicherte sind die Anrufe von Krankenkassenvermittlern. Die Kassen haben aber vor kurzem die Bussen, zum Beispiel für Verstösse gegen das Anrufverbot, abgeschafft. Warum verwässern sie die bisherige Branchenvereinbarung?
Es gibt keine Verwässerung. Es gilt weiter, dass wir Maklern maximal 70 Franken für eine Neuanmeldung in der Grundversicherung zahlen. Die Kassen beschäftigen diese, um den Beratungsbedarf während der Wechselsaison abzudecken. Jeder Krankenkassenberater muss gut ausgebildet sein.
Was müsste geändert werden, damit die Prämien sinken?
Der grösste Kostenblock sind mit einem Viertel die Medikamente. Das Bundesamt für Gesundheit sollte alle kassenpflichtigen Medikamente einmal im Jahr einem Auslandspreisvergleich unterziehen – nicht wie bisher nur jedes dritte Medikament. Zudem sind Generika im Ausland nur halb so teuer. Die Preise müssen runter. Wir schicken ausserdem jedes Jahr Vorschläge an das Bundesamt für Gesundheit, um unnötige medizinische Behandlungen aus dem Leistungskatalog zu streichen. Aber es passiert nicht viel oder spät. Zum Beispiel überprüfte das Bundesamt für Gesundheit 2016 nutzlose Vitamin-D-Tests, die rund 50 Millionen Franken pro Jahr kosten. Das Bundesamt für Gesundheit handelte erst sechs Jahre später und strich diese weitgehend aus dem Leistungskatalog.
Wo sehen Sie weitere Sparmöglichkeiten?
Ein grosser Kostentreiber im ersten Halbjahr dieses Jahres waren die Spitäler. Psychologische Psychotherapeuten können seit Juli 2022 in der Grundversicherung abrechnen. Physiotherapeuten rechneten gegenüber dem Vorjahreszeitraum deutlich mehr ab. Die Hauptfrage ist: Wie viele und welche Spitäler, Ärzte und The-
rapeuten braucht das Land? Die Schweiz hat rund 300 Spitäler, Dänemark etwa 50. So viel Angebot schafft Nachfrage. Das Problem ist: Ein Regierungsrat, der ein Spital schliesst, muss Angst haben, dass er nicht mehr gewählt wird.
Darum müssten wir mehr nationale Vorgaben haben – am besten auch qualitative. Die Qualität der Behandlung steigt jedenfalls mit der Routine des Arztes und seines Teams. Auch deshalb brauchen wir mehr grössere Spitäler statt viele kleine.
Zur Person
Verena Nold, 61, studierte Ökonomie an der Uni St. Gallen. Seit 2013 ist sie Direktorin des Verbands Santésuisse, dem zum Beispiel die Krankenkassen Visana, Assura, Groupe Mutuel und Concordia angehören. Der Verband vertritt Versicherungen mit 60 Prozent Marktanteil. Von 1990 bis 1997 war Nold bei der Krankenkasse Helsana unter anderem fürs Marketing verantwortlich.