Der 67-jährige Witwer ist erschüttert: «Hätten wir gewusst, dass das Inselspital dieses Gefässimplantat erst das zweite Mal einsetzt, hätte meine Frau nie mitgemacht», sagt er dem Einzelrichter am Regionalgericht Bern-Mittelland. Es habe sich um einen Eingriff «im Experimentierstadium» gehandelt. Der als Zeuge befragte Sohn bestätigt, dass von einem Standardeingriff die Rede war. Der Anwalt des Witwers bringt es auf den Punkt: «Wer will schon Versuchskaninchen sein, ohne es zu wissen?»
Die Operation fand im Jahr 2017 statt. Die Ärzte hatten bei der 65-jährigen Frau bei einer anderen Untersuchung zufällig bei einer Arterie im Kopf eine Ausstülpung festgestellt, ein sogenanntes Aneurysma. Dabei besteht die Gefahr, dass die Gefässwand irgendwann reisst, was lebensbedrohlich sein kann. Die Neigung zu Aneurysmen kann vererbt werden. Der Bruder der Frau war an einer Hirnblutung gestorben.
Der Witwer fordert vom Spital eine Genugtuung von rund 30 000 Franken. Sein Anwalt begründet die Klage mit einer Verletzung der Aufklärungs- und Informationspflicht. «Die Patientin hatte keine echte Wahl», sagt er. Sie sei ungenügend über den Eingriff und über Alternativen aufgeklärt worden. Der Arzt habe einzig die endovaskuläre Methode empfohlen, auf die er als Neuroradiologe spezialisiert sei. Dabei erfolgt der Eingriff von der Leiste aus. Von dort gelangt der Arzt mit einem Mikrokatheter über eine Vene zur fraglichen Stelle im Gehirn. Dann platziert er ein kleines Gefässimplantat im Aneurysma, um es vom Blutkreislauf abzutrennen.
«Der Arzt unterschlug wesentliche Fakten»
Die chirurgische Methode hingegen habe der Arzt «nur ganz rudimentär abgehandelt», so der Anwalt des Witwers. Dabei erfolgt der Zugang direkt vom Kopf aus. Ein Neurochirurg öffnet an einer kleinen Stelle den Schädel und verschliesst das Aneurysma mit einer Klemme. Das sei ein Vorteil bei Komplikationen während des Eingriffs, sagt der Anwalt: «Beim chirurgischen Verfahren ist es besser möglich, eine Hirnblutung zu stoppen.» Davon habe der Arzt beim Aufklärungsgespräch nichts gesagt.
Hinzu komme, dass der Arzt nicht das übliche Gefässimplantat, ein sogenanntes Coil, empfohlen habe. Stattdessen riet er zu einem neuartigen Körbchenimplantat, einem feinmaschigen Geflecht aus einer Nickel-Titan-Legierung, im Fachjargon Woven Endobridge genannt. «Der Arzt unterschlug wesentliche Fakten», sagt der Anwalt. Etwa, dass dieses Implantat in der Fachwelt umstritten sei. Und vor allem habe er verschwiegen, dass es das Inselspital zuvor erst ein einziges Mal verwendet hatte.
Bei der Operation blieb der Mikrokatheter nahe beim Ziel zunächst stecken. Dann schnellte er plötzlich vor und durchstach die Gefässwand des Aneurysmas. Die Folge war eine schwere Hirnblutung, die schliesslich zum Tod führte.
Die Anwältin des Inselspitals bestreitet die Vorwürfe. Die Patientin sei umfassend aufgeklärt worden. Auch die Komplikationsrate von vier bis fünf Prozent bei einem solchen Eingriff und die Möglichkeit einer tödlichen Hirnblutung seien angesprochen worden. Die Verwendung des Körbchenimplantats sei «irrelevant», weil es die schwere Komplikation nicht verursacht habe.
Der Richter weist die Genugtuungsforderung des Witwers ab. Die Aufklärung der Patientin sei «lege artis» laiengerecht erfolgt, heisst es im Urteil. Es sei «nicht entscheidend», ob die Patientin gewusst habe, dass das Inselspital das fragliche Produkt erst zum zweiten Mal benutzte. Bei der Operation sei ein Spezialist des Herstellers anwesend gewesen, der das Implantat selber schon 32 Mal eingesetzt hatte. Dabei habe es sich um ein zugelassenes, im konkreten Fall geeignetes Medizinalprodukt gehandelt. Der Witwer zieht den Fall ans Obergericht weiter.
Arztfehler: Rasch Anwalt konsultieren
Bei Verdacht auf eine Fehlbehandlung in einem öffentlichen Spital sollte man sich sofort beraten lassen, am besten von einem Anwalt mit Erfahrung in Spitalhaftungsfällen. Unabhängige Patientenstellen können qualifizierte Anwälte vermitteln.
Oft ist Eile geboten: Das Opfer oder dessen Angehörige können den fehlbaren Arzt nicht nach den Arzthaftungsregeln des Obligationenrechts belangen. Sie müssen nach kantonalem Recht klagen. Die Regeln sind unterschiedlich: In einigen Kantonen erlischt das Klagerecht schon innert eines Jahres nach Kenntnis des Schadens. Die Klage auf Schadenersatz und Genugtuung richtet sich dabei gegen das Spital, nicht gegen den Arzt.