Jodtabletten: Fragwürdig und umstritten
Bis Ende November erhalten 4,9 Millionen Einwohner im Umkreis von Atomkraftwerken per Post Jodtabletten. Die Informationen dazu sind mangelhaft.
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saldo 19/2014
19.11.2014
Letzte Aktualisierung:
24.11.2014
Yves Demuth
Bewohner im Umkreis von 50 Kilometern um ein AKW erhalten im November Post von der Armeeapotheke. Diese versendet an jeden Bewohner zwölf Kaliumiodidtabletten. Bis Frühling 2015 erhalten auch alle Firmen in diesem Umkreis Jodtabletten für ihre Mitarbeiter. Die Aktion geht nur an Schweizer Adressen. Bewohner auf der andern Seite der Grenze gehen leer aus.
Bisher erhielten nur Anwohner und Firmen im Umkreis von 20 Kilometern solche Tabletten. Als Reaktion auf ...
Bewohner im Umkreis von 50 Kilometern um ein AKW erhalten im November Post von der Armeeapotheke. Diese versendet an jeden Bewohner zwölf Kaliumiodidtabletten. Bis Frühling 2015 erhalten auch alle Firmen in diesem Umkreis Jodtabletten für ihre Mitarbeiter. Die Aktion geht nur an Schweizer Adressen. Bewohner auf der andern Seite der Grenze gehen leer aus.
Bisher erhielten nur Anwohner und Firmen im Umkreis von 20 Kilometern solche Tabletten. Als Reaktion auf die AKW-Katastrophe in Fukushima im März 2013 dehnte der Bundesrat den Verteilradius auf 50 Kilometer aus.
Der Zeitpunkt der Einnahme der Tabletten ist entscheidend
Bei einem AKW-Unfall kann radioaktives Jod austreten und in die Schilddrüse gelangen. Dort kann es vor allem bei Kindern, Schwangeren und Jugendlichen Krebs auslösen. Zweck der verschickten Jodtabletten: Wer sie vor Eintreffen der radioaktiven Wolke schluckt, sättigt die Drüse mit normalem Jod, bevor er radioaktives Jod einatmet. Doch die Informationen zur Verteilungsaktion sind mangelhaft:
- Die Packungsbeilage sagt nichts zum idealen Einnahmezeitpunkt. «Man darf die Tabletten weder zu früh noch zu spät einnehmen», sagt Hausarzt Alfred Weidmann aus Uhwiesen ZH. Sonst hätten die Tabletten wenig Wirkung. Ideal sei eine Einnahme eine Stunde vor dem Eintreffen der radioaktiven Wolke. Doch dafür müssten die Tabletten im Umkreis der AKW stets mitgeführt werden. Das sei unrealistisch, kritisiert Weidmann, Vorstandsmitglied von «Ärzte für Umweltschutz». Fände ein Unfall wie in Fukushima im AKW Mühleberg statt, wäre die radioaktive Wolke bei normaler Westwindlage in einer Stunde in Bern und in fünfeinhalb Stunden in Zürich. Dies zeigt eine Modellrechnung des Ökoinstituts Darmstadt (D) im Auftrag von Greenpeace.
- Das Informationsblatt des Bundes verschweigt, dass bei einem AKW-Unfall unter anderem auch radioaktives Cäsium und Strontium austritt. Letzteres lagert sich in den Knochen ab. Dagegen helfen die Tabletten nicht.
- Nirgends wird erwähnt, dass die Einnahme von Jodtabletten bei über 45-jährigen Personen umstritten ist. Die deutsche Strahlenschutzkommission bekräftigte dieses Jahr: «Personen über 45 Jahren wird von einer Einnahme der Tabletten abgeraten, da für diese das Risiko von Nebenwirkungen durch die Einnahme der Jodtabletten grösser ist als der Schutz vor möglichen Strahlenschäden.» Auch Arzt Weidmann rät dieser Altersgruppe von der Einnahme von Jodtabletten ab.
Tony Henzen von der Geschäftsstelle Kaliumiodid-Versorgung arbeitet für die private Firma Atag. Diese organisiert im Auftrag des Bundes die Tablettenverteilung. Er sagt, die Schweiz halte sich an die Weisungen der Weltgesundheitsorganisation. Diese empfehle allen Personen, die Jodtabletten einzunehmen.