André Linden wartet im Viiskulma-Gesundheitszentrum in Helsinki auf einen Kontrolltermin. Er ist fast allein, es ist Ferienzeit. Sein rechter Daumen ist schwarz und geschient. Vor vier Tagen machte der 34-jährige Neuzuzüger aus Schweden das erste Mal Bekanntschaft mit dem finnischen Gesundheitswesen. Er rief nach seinem Unfall mit einem Hammer im Zentrum an. Als Notfall konnte er sofort vorbeikommen. Er sagt: «Die Behandlung war optimal.»
Linden ist einer von 50 000 Bewohnern von Süd-Helsinki, die zuerst das Viiskulma-Zentrum aufsuchen können. Dazu gehören Einwanderer und Studenten, aber auch Gutverdiener, die in den teuren Jugendstilhäusern der Innenstadt wohnen. Auch zwei Ex-Staatspräsidenten Finnlands kommen hierher. Alle müssen sie zuerst eine Nummer ziehen und warten, sagt eine Ärztin: «Jeder bekommt denselben Service.»
Landesweit gibt es rund 160 solche kommunale Zentren. Sie bieten vor allem Dienstleistungen der Hausarzt- und Kindermedizin an. Private Hausarztpraxen sind selten. Die Kosten der Zentren tragen die Gemeinden. Pflegefachfrauen betreuen die Patienten zuerst am Telefon und versorgen sie, wenn sie vorbeikommen. Sie klären auch ab, wer einen Arzttermin braucht.
Laut Viiskulma-Chefärztin Essi Mäkelainen konzentrieren sich ihre 22 Ärzte bei den Konsultationen darauf, Diagnosen zu stellen. Sie entscheiden, ob ein Patient eine Überweisung zu einem Spezialisten im öffentlichen Spital braucht. Das verhindert überflüssige Behandlungen und ähnelt dem Schweizer Hausarztmodell.
Der Besuch beim Arzt kostet höchstens 18 Franken
Die Ärzte haben kein Interesse an einer Überversorgung der Patienten, sagt die Chefärztin. 60 Prozent ihres Salärs sind fix, 40 Prozent hängen von der Zahl der behandelten Patienten ab. Einzelleistungen können sie nicht abrechnen.
Ein Besuch beim Zentrumsarzt kostet die Patienten höchstens 18 Franken Selbstbehalt, eine Notfallbehandlung Fr. 24.50, eine Behandlung im öffentlichen Spital 42 Franken. Medikamente müssen die Patienten teilweise selbst bezahlen. Ihr Selbstbehalt beträgt je nach Präparat 35 bis 65 Prozent des Apothekerpreises – ausgenommen sind teure Medikamente wie die gegen Krebs. Auch hier gibt es eine soziale Abfederung: Benötigt ein Patient rezeptpflichtige Arzneimittel, die über 740 Franken im Jahr kosten, springt die Sozialkasse Kela ein. Laut dem Gesundheitsministerium begleichen die Einwohner Finnlands ein Viertel der Gesundheitskosten aus dem eigenen Sack. In der Schweiz bezahlen Patienten knapp ein Drittel selbst. Nur Mexikaner und Südkoreaner zahlen mehr.
Die Patienten können ihr Gesundheitszentrum frei wählen
Das finnische System ist kein Zwangssystem. Patienten dürfen ihr Gesundheitszentrum frei wählen. Laut Viiskulma-Sprecherin Nina Ahlblad-Mäkinen wechselten in den letzten drei Jahren aber nur 5 Prozent ihrer Patienten das Zentrum. Die Patienten können zudem bestimmen, wer sie behandelt. Termine bei beliebten Fachkräften sind lange im Voraus ausgebucht.
Ein Ärgernis sind Wartezeiten. Laut amtlichen Statistiken mussten Ende 2012 Nicht-Akut-Patienten in öffentlichen Spitälern mindestens 28 Tage auf ihren ersten Termin warten. Im Viiskulma-Zentrum sind 30 Tage Wartezeit üblich.
Die Patienten entscheiden flexibel, wohin sie gehen
Wer nicht warten will, schliesst eine private Krankenversicherung ab. Für Security-Mann Andréa Parané zahlten sich vor kurzem die 180 Franken aus, die er im Jahr dafür investiert. Nach einer Knieverletzung bekam er in drei Tagen einen Termin zur MRI-Untersuchung in einer Praxis: «Sonst hätte ich zwei, drei Monate gewartet.»
Heute sitzt er im Wartebereich des Viiskulma-Zentrums. Er hat Grippe und braucht ein Arztzeugnis. Es ist unklar, ob und wie viel seine Privatversicherung an die Behandlung zahlen würde. Im Zentrum ist sie gratis. Laut Oberschwester Ulla Frondelius ist das ein typisches Verhalten. Die Patienten entscheiden flexibel, wohin sie gehen: «Bei schweren Krankheiten verlassen sie sich lieber auf das öffentliche System.» Denn in privaten Praxen und Spitälern zahlen sie höhere Selbstbehalte. Zudem garantieren verbindliche ärztliche Richtlinien eine gute öffentliche Versorgung, sagt Viiskulma-Ärztin Nora Tehl.
Auch die 26-jährige Marija musste vier Wochen warten, bis sie wegen einer «Frauensache» heute um 14 Uhr eine Ärztin sehen kann. Die Studentin würde dennoch nie in eine Privatversicherung wechseln. Sie vertraue dem öffentlichen Gesundheitswesen mehr, weil hier «keine Pharmagelder drinstecken und alle Patienten eine gute Versorgung bekommen».
Das Modell Finnland: Gute Gesundheit, mässige Kosten
Im Jahr 2012 kostete die medizinische Versorgung in Finnland laut Gesundheitsministerium pro Bürger 3241 Franken. 75 Prozent der Kosten decken Steuern, nur 2 Prozent private Versicherungen.
Das Gesundheitssystem in der Schweiz war laut der Weltgesundheitsorganisation WHO mit Pro-Kopf-Ausgaben von 8178 Franken über 150 Prozent teurer. Die Lebenserwartung der 5,4 Millionen Finnen ist mit 81 Jahren laut der WHO fast so hoch wie die der Schweizer mit 83 Jahren.
Im Vergleich: Die finnische und die schweizerische «Einheitskasse»
- Finanzierung: Die staatliche Sozialkasse Kela erfüllt am ehesten die Funktion der über 60 Krankenkassen, die in der Schweiz die Grundversicherung anbieten. Hauptunterschied: Die Finnen finanzieren die öffentliche Gesundheitsversorgung vor allem über Steuern, nicht über Prämien wie die Schweizer.
- Kostenaufteilung: Kela erstattete ambulant versorgten Patienten im letzten Jahr 1,5 Milliarden Franken für rezeptpflichtige Medikamente. 600 Millionen zahlten sie selbst. Zudem beteiligte sich Kela mit 10 bis 30 Prozent an den Behandlungskosten bei privaten Ärzten und Zahnärzten. Den Rest zahlten Patienten und private Versicherungen.
- Verwaltungskosten: Kela weist jährliche Verwaltungskosten von 97 Franken pro Bürger aus. Die Kasse verwaltet neben der Krankenversicherung weitere Sozialleistungen wie Kinder- oder Krankentaggelder. Schweizer Kassen wiesen im Jahr 2012 allein in der Grundversicherung jährliche Verwaltungskosten von 156 Franken pro Mitglied aus. Zusammen steckten sie 224 Millionen Franken pro Jahr in die Werbung (saldo 19/13). Kela hat ein entsprechendes Budget von 360 000 Franken.
- Volksabstimmung: Die Schweizer Stimmbürger entscheiden am 28. September über eine Volksinitiative zur Einführung einer Einheitskasse. Gemeint ist damit aber keine Änderung des Gesundheitssystems. Die bezahlten Leistungen der Grundversicherung bleiben dieselben wie bisher, genauso wie die freie Wahl der Ärzte und Spitäler. Heute unterscheiden sich nicht die Leistungen der Grundversicherung, sondern nur die Prämien. Wird die Initiative angenommen, stellen nicht mehr über 60 Kassen die Prämien in Rechnung, sondern nur noch eine einzige.