Unangenehme Wahrheiten verschweigt man gerne. Genau das macht auch das Bundesamt für Sozialversicherungen. In einer Pressemitteilung erwähnte es kürzlich nur am Rande, dass eine neue Studie zu den Reformen in der Invalidenversicherung erschienen ist – mehr nicht. Den Eingliederungsexperten Niklas Baer von der Psychiatrie Baselland wundert das kaum: Die neue Studie zeige, dass «die Eingliederungsbemühungen der IV bei den Rentnern weitgehend fehlgeschlagen sind». Verfasser ist das Büro für arbeits- und sozialpolitische Studien in Bern.
IV-Umbau: 200 000 Renten überprüft
Der Umbau der Invalidenversicherung läuft seit 2008. Die IV soll Erwerbstätige mit Handicaps frühzeitig erfassen und unterstützen, damit sie ihren Job behalten können. Sie soll zudem IV-Rentnern besser helfen, neue Stellen zu finden. Eine Rente soll nur erhalten, wer sie wirklich braucht (saldo 19/09 und 12/11).
Das Parlament verpflichtete in der 6. IV-Revision die Verantwortlichen dazu, sämtliche 200 000 Renten zu überprüfen. Die Mitarbeiter der 26 kantonalen IV-Stellen durchkämmten deshalb von 2012 bis 2014 die Dossiers. Sie suchten IV-Rentner mit Potenzial zur beruflichen Wiedereingliederung. Die IV bot ihnen etwa Einarbeitungszuschüsse an oder Job-Coaching, um sie in die Arbeitswelt zu integrieren.
Neue Jobs nur für wenige Rentenbezüger
Die IV-Mitarbeiter durchsuchten zusätzlich alle Dossiers nach Bezügern, die an organisch nicht nachweisbaren Schmerzen litten. Ihre Renten sollten sinken oder ganz gestrichen werden.
Das Ziel der Aktion: Der Bundesrat wollte 12 500 Vollrenten abbauen oder insgesamt 17 500 Rentner in den Arbeitsmarkt eingliedern (saldo 12/11). Die Einsparungen sollten die IV finanziell sanieren und den politischen Vorwurf entkräften, dass die Versicherung auch Renten an «Scheininvalide» zahle.
Das Resultat der Überprüfung: Laut der neuen Studie fanden in drei Jahren nur 160 bisherige Rentenbezüger neue Jobs. Die IV hob zudem weitere rund 660 Renten von Bezügern mit angeblich unklaren Leiden auf. 270 Betroffene fochten die Aufhebung oder Kürzung der Rente an. Bis Ende 2014 bestätigten die Gerichte lediglich 99 der Änderungen als rechtens. Viele Verfahren sind noch hängig.
Die ErfolgszZahlen beruhen auf Hochrechnungen der Studienautoren. Das Bundesamt verfügt über keine entsprechende Statistik. Jede kantonale IV-Stelle zähle weiterhin nach eigenen Regeln.
Studie: Jobs für wenig Qualifizierte fehlen
Der Eingliederungsexperte Niklas Baer spricht von einer «verschwindend geringen Erfolgsquote». Was lief schief? Laut den Studienautoren orientierten sich die Politiker und die Verwaltung «an politischen Sparzielen» und überschätzten deshalb das Potenzial für Wiedereingliederungen und Rentenaufhebungen. Es fehlt vor allem an Jobs für psychisch Kranke, die fast die Hälfte der IV-Rentner ausmachen.
Zudem gibt es laut der Studie immer weniger Jobs für wenig qualifizierte Angestellte. Viele Versuche zur Wiedereingliederung verliefen harzig, da sich die Anwärter tatsächlich als krank erwiesen. Der Zustand vieler psychisch Kranker habe sich während der Eingliederung verschlechtert. Die IV musste viele Versuche abbrechen. Die Studie kommt zum Schluss, dass die IV wenige Renten an Leute auszahlt, die «medizinisch nicht oder zu wenig begründbar sind».
Die IV schätzte auch die Zahl der Bezüger mit unklaren Leiden zu hoch: Es zeigte sich, dass viele Bezüger gleichzeitig auch an organischen Krankheiten litten oder schon seit langem eine Rente erhalten.
Ein grosser Teil der IV-Mitarbeiter bezeichnet den Aufwand für die Überprüfungen als «unverhältnismässig». Dazu komme, dass die Verfahren viele Versicherte, Ärzte und Bürger gegen die IV aufgebracht hätten. Trotzdem bescheinigen die Studienautoren der IV-Reform, den «Kulturwandel» forciert zu haben. Früherfassung und Eingliederung hätten nun in der IV Vorrang. Zudem gab es auch weniger neue Renten.
Für David Siems vom Betroffenen-Verein Selbstbestimmung.ch zeigt die neue Studie, dass «die Politik endlich zur Kenntnis nehmen muss, dass IV-Rentner keine Simulanten» seien. «Gerade psychisch Kranke wollen arbeiten, können das aber nicht in einem ökonomisch verwertbaren Rahmen.» Siems fordert, die IV «nicht auf dem Rücken der Rentner zu sanieren und die Arbeitgeber stärker finanziell einzubinden».
Wiedereingliederung: Arbeitgeber gefordert
Ähnlich argumentiert der Integrationsexperte Niklas Baer. Er führt die schlechte Bilanz auf die oft noch ungenügende Kooperation der IV-Stellen mit Arbeitgebern und Ärzten zurück: «Alle müssen am gleichen Strick ziehen.»
Baer sieht vor allem die Arbeitgeber in der Pflicht. Für zwei noch unveröffentlichte Studien hatte er im letzten Jahr einmal 1500 Führungskräfte und das andere Mal 300 Arbeitgeber befragt. Nur rund 5 Prozent der Chefs meldeten der IV, wenn ein Mitarbeiter wegen psychischer oder körperlicher Handicaps auffalle und der Jobverlust drohe.
Für Niklas Baer ist das zu wenig: Die IV-Stellen seien auf Hinweise von Arbeitgebern und Ärzten angewiesen, um genügend früh eingreifen zu können. Denn es sei «leichter, einen solchen Arbeitsplatz zu erhalten, als einen neuen zu schaffen».