IV: Politisieren mit unbrauchbaren Zahlen
Bei der Debatte um Missbräuche in der Invalidenversicherung wird mit aufgebauschten Zahlen operiert.
Inhalt
saldo 02/2008
03.02.2008
Jürg Fischer
Seit einem Jahr taucht die Zahl in praktisch jeder Diskussion um die Invalidenversicherung (IV) auf: 400 Millionen Franken verliere die IV jährlich durch Missbräuche.
Politiker verwenden die Zahl seither als Beleg für die Malaise bei der IV. Und die Medien kolportieren die 400 Millionen teilweise als wissenschaftlich erhärtete Tatsache.
Die Zahl stammt aus einer Diplomarbeit an der Hochschule für Wirtschaft in Luzern aus dem Jahr 2006. Die...
Seit einem Jahr taucht die Zahl in praktisch jeder Diskussion um die Invalidenversicherung (IV) auf: 400 Millionen Franken verliere die IV jährlich durch Missbräuche.
Politiker verwenden die Zahl seither als Beleg für die Malaise bei der IV. Und die Medien kolportieren die 400 Millionen teilweise als wissenschaftlich erhärtete Tatsache.
Die Zahl stammt aus einer Diplomarbeit an der Hochschule für Wirtschaft in Luzern aus dem Jahr 2006. Die Autoren der Studie, Reto Bachmann und Markus D’Angelo, haben sie anhand einer Umfrage bei den 27 IV-Stellen errechnet.
Vernichtende Kritik an der Datenerhebung
«Diese Schätzung von 400 Millionen Franken ist absolut nicht verlässlich», sagt nun Jörg Jeger, Chefarzt der Medizinischen Abklärungsstelle Zentralschweiz. Er hat die Erhebung in einem Beitrag in der «Schweizerischen Zeitschrift für Sozialversicherung und berufliche Vorsorge» unter die Lupe genommen. Und kommt zu einem vernichtenden Urteil:
Die Datenerhebung ist fragwürdig: Die IV-Stellen konnten auf einem Fragebogen in Prozenten angeben, wie hoch sie den Missbrauch schätzen. Sieben IV-Stellen erachteten eine solche Schätzung als unmöglich, unseriös oder spekulativ und verweigerten die Angabe von Zahlen. Andererseits gab eine IV-Stelle an, dass sie den Missbrauch bei sich selbst auf 5 Prozent schätze, bei allen andern IV-Stellen aber auf 15 Prozent.
Die Datenbasis ist mangelhaft: Obwohl 27 IV-Stellen angefragt wurden, kamen nur die Angaben von 12 in die Auswertung. Zwei IV-Stellen, die den Missbrauch sehr tief schätzten, wurden nicht berücksichtigt, weil ihre Fragebögen erst einen Tag vor dem Abgabetermin der Arbeit eintrafen.
Die Datenauswertung ist unwissenschaftlich: Aus den geschätzten Prozentwerten wurde einfach der Durchschnittswert (das arithmetische Mittel) errechnet. Folge: Die Extremdaten in den Schätzungen verzerren das Resultat massiv.
Jörg Jeger hat anhand der in der Studie ermittelten Daten selbst eine Hochrechnung angestellt. Er berücksichtigte dabei auch die zwei nicht ausgewerteten Fragebögen mit tiefen Schätzungen und errechnete statt des arithmetischen Durchschnitts den sogenannten Mittelwert (Median), der die Extremdaten weniger gewichtet. Die Folge: Aus den 400 Millionen Franken Missbrauch werden plötzlich nur noch 250 Millionen. Jeger schränkt aber ein: «Auch diese Schätzung ist ungenau, weil das zugrunde liegende Datenmaterial äusserst unzuverlässig ist.»
Bundesamt für Sozialversicherungen macht neue Studie
Der Luzerner Jurist Reto Bachmann verteidigt die Zahl: «Ob das Potenzial von missbräuchlich und unrechtmässig bezogenen IV-Leistungen bei 250 oder 400 Millionen liegt, spielt letztlich keine Rolle und hilft bei der Lösung des Problems nichts.» Zudem meint er: «Wir haben in unserer Arbeit explizit erklärt, dass es sich dabei um eine Schätzung handelt und die erhobenen Zahlen nicht wissenschaftlichen Anforderungen genügen.» Anderer Meinung ist Jeger: «Die Zahl eignet sich nicht, um mit ihr zu politisieren.»
Der Zahlenstreit wird weitergehen. IV-Vizedirektor Alard du Bois-Reymond hat gegenüber saldo angekündigt, dass das Bundesamt für Sozialversicherungen Mitte Februar eine selbst in Auftrag gegebene Studie zum Thema missbräuchliche und nicht gerechtfertigte IV-Leistungen veröffentlichen wird.