Irrer «Blick»
Die Berichterstattung zu Nordkorea besteht aus Stimmungsmache statt Fakten. Vor allem beim «Blick».
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saldo 09/2017
09.05.2017
Rolf Hürzeler
Der «Blick am Abend» fährt schweres Geschütz auf: «Droht mit dem ‹totalen Krieg› – Diktator Kim Jong Un», heisst es unter einem Bild mit dem Konterfei des Diktators (siehe Bild). Das Gratisblatt erinnert damit an die hetzerische Rede des Nazi-Propagandaministers Joseph Goebbels im Berliner Sportpalast vom Februar 1943. Kein Mensch weiss, woher der «Blick am Abend» dieses Zitat im Hinblick auf Nordkorea nimmt. Im Artikel &n...
Der «Blick am Abend» fährt schweres Geschütz auf: «Droht mit dem ‹totalen Krieg› – Diktator Kim Jong Un», heisst es unter einem Bild mit dem Konterfei des Diktators (siehe Bild). Das Gratisblatt erinnert damit an die hetzerische Rede des Nazi-Propagandaministers Joseph Goebbels im Berliner Sportpalast vom Februar 1943. Kein Mensch weiss, woher der «Blick am Abend» dieses Zitat im Hinblick auf Nordkorea nimmt. Im Artikel mit dem Titel «Kommt es zum Atomkrieg?» ist keine Quelle angegeben. Klar ist für den Leser einzig: «Blick am Abend» setzt die nordkoreanische Führung mit dem Naziregime gleich und gibt das Land damit zum Abschuss frei. Auch wenn das nordkoreanische Regime kein Rechtsstaat ist, hat die Bevölkerung einen Anspruch auf Souveränität.
Kim Jong Un ist der einzige Mensch auf der Welt, der im «Blick» stets mit dem Adjektiv «irr» betitelt wird. «Irrer Kim unter Bschiss-Verdacht», lautete Ende April eine Schlagzeile, «Bombt der irre Kim einen Vulkan zum Ausbruch?», hiess es Anfang Mai. Einmal werden ihm Drohgebärden vorgeworfen, wenn er eine Militärparade veranstalten lässt. Am nächsten Tag lautet der Vorwurf, seine Panzer und Flugzeuge würden aus den 50er- und 60er-Jahren stammen.
Sprachliche Verweise auf einen angeblich kranken Gemütszustand des Diktators sind auch aus der Redaktion der «Südostschweiz» zu hören: «Der irre Kim provoziert und provoziert», lautet ein Titel zu einem Artikel über einen weiteren Raketentest Nordkoreas. Tatsache ist, dass auf der ganzen Welt tagtäglich Raketen und Bomben getestet werden – doch nur die nordkoreanischen schaffen es in die Medien.
Ein löbliches Beispiel, dass man es bei der Nordkorea-Berichterstattung auch mit Fakten versuchen könnte, zeigte die Redaktion des «Tages-Anzeigers» auf dem Portal Newsnet: Unter dem Titel «Was im Nordkorea-Konflikt wirklich passiert» analysieren die Autoren die heutige Ausgangslage, die Konfliktparteien und die geschichtlichen Hintergründe.
Koreakrieg: 635 000 Tonnen US-Bomben
Auch der Hintergrund der aggressiven Rhetorik wird der Leserschaft klar: Die koreanische Halbinsel ist eine Pufferzone der Grossmächte China, Russland und USA. Und aus der Geschichte Nordkoreas wird klar, dass die Bevölkerung einen Grund hat, die USA zu fürchten. Die Grossmacht habe im Koreakrieg «zwischen 12 und 20 Prozent der nordkoreanischen Bevölkerung getötet». Die USA warfen damals 635 000 Tonnen Bomben auf das Land. Das sind laut «Tages-Anzeiger» 100 000 Tonnen mehr, als im ganzen Zweiten Weltkrieg im pazifischen Raum eingesetzt wurden.