Die «Tagesschau am Mittag» berichtete am 12. Juni über verkürzte Einbürgerungsfristen für Ausländer, die Schweizer werden wollen. Vor der Kamera stammelte der Berner SP-Ständerat Hans Stöckli: «Die Erhöhung von acht auf zehn Jahre könnte für die Linke ein Problem werden, das nicht mehr geschluckt werden könnte.» Vor diesem Interview hatten die Zuschauer erfahren, dass die Linke eine Herabsetzung der Frist auf acht Jahre verlangte, die Rechte dagegen auf zehn Jahren beharrte. Anschliessend ging dann noch einmal ein kurzes Interview über den Sender, und zwar mit einem SVP-Ständerat, der das Gegenteil von Stöckli sagte. «Wenn acht Jahre, dann Referendum.» Drei Interviews – und am Schluss ist alles unklar.
In der gleichen Ausgabe der «Tagesschau» ein weiteres Interview zum Kopfschütteln: Ein Fernsehreporter streckt Bundesrätin Doris Leuthard im neuen Zürcher Tiefbahnhof das Mikrofon entgegen. Sie sagt geduldig lächelnd: «Ein freundlicher Ort mit goldener Decke – da wartet man gerne auf den Zug.» Als ob die Magistratin auf einen Zug warten würde. Im gleichen Beitrag durfte SBB-Chef Andreas Meyer noch einen Werbespot platzieren. Er behauptete unwidersprochen, der neue Bahnhof bringe den Bahnreisenden «mehr Sitzplätze» – für die TV-Zuschauer eine ziemlich rätselhafte Aussage.
Diese Beispiele zeigen: Fernsehinterviews dienen häufig nur als Werbeplattform für die politischen Akteure. Das geht auf Kosten einer sachlichen und unabhängigen Berichterstattung.
«10 vor 10»: Gegenteilige Aussagen derselben Sendung
Immerhin: Es gibt auch gute Beispiele. Etwa Gespräche mit Experten, die sich nicht nur so nennen, sondern tatsächlich etwas von der Sache verstehen. Der Islamexperte Reinhard Schulze von der Universität Bern sieht am gleichen Tag im Magazin «10 vor 10» den Vormarsch der Islamisten im Irak im Zusammenhang mit dem Einmarsch der US-Amerikaner vor 20 Jahren: «Die Amerikaner hatten keine Pläne für einen geordneten Aufbau – darum fehlen jetzt die Strukturen.»
Doch auch bei «10 vor 10» gibt es für die Zuschauer in Interviews wenig Erkenntnisgewinn. Die Sendung zeigt noch einmal die Eröffnung des neuen Zürcher Bahnhofs, diesmal sagte Bundesrätin Leuthard in die Kamera: «Das ist von grosser Bedeutung für die Ost-West-Achse.» Auch hier kein Widerspruch seitens des Reporters, selbst wenn der Zeitgewinn für Zugpassagiere von Genf nach St. Gallen lediglich ein paar Minuten beträgt. Und das erst in eineinhalb Jahren.
Nicht selten verwirren die hintereinander eingeblendeten Aussagen. In einem andern Beitrag von «10 vor 10» sagt ein Solothurner Oberrichter, dass «korrekte Urteile» nicht gefällt werden könnten, wenn Einträge ins Strafrechtsregister nach zehn Jahren gelöscht würden. Der psychiatrische Gutachter Frank Urbaniok macht die gleiche Aussage eine knappe Minute später ebenfalls – bevor ein Strafrechtsexperte beiden Vorrednern widerspricht. Was stimmt nun?
Streben nach Ausgewogenheit: Jeder darf etwas sagen
Ein weiteres Beispiel: In einem Beitrag über die kontrollierte Cannabisabgabe wird den Zuschauern zunächst erklärt, dass die Linke dafür, die Rechte dagegen ist. Es folgt ein Kurzinterview mit einer SP-Nationalrätin, die für die Abgabe ist, und eines mit einer gegnerischen SVP-Nationalrätin. Dann sagt ein Experte, der Cannabisbezug verstosse nicht gegen das Betäubungsmittelgesetz. Daraufhin behauptet ein anderer des Bundesamts für Gesundheit das Gegenteil. Vier nichtssagende Interviews – und der Zuschauer ist so schlau wie zuvor.
Anlass für die Interviews scheint das Bestreben nach Ausgewogenheit zu sein. Typisch ein Beitrag im Wissenschaftsmagazin «Eco» über das Bienensterben. Zuerst kritisiert ein Wissenschafter eine Studie des Chemieunternehmens Syngenta, die Pestizide für unschädlich hält. Syngenta wollte vor der Kamera dazu keine Stellung beziehen. Also grub die Redaktion ein altes Interview mit einem Syngenta-Sprecher aus, der Pestizide als harmlos bezeichnet – für den Zuschauer wenig überraschend. Und was stimmt jetzt? Interviews statt Recherchen bringen den Zuschauern keine nützlichen Informationen.
Reporter haken bei unbeantworteten Fragen nicht nach
Eine andere Unsitte: Die Fernsehreporter stellen Experten oder Politikern Fragen, die diese nicht beantworten können oder wollen. So legt die «Rundschau» dem Rechtsexperten Mark Pieth vor laufender Kamera angeblich E-Mails vor, welche die Korruptionsfälle in der Fifa belegen sollen. Pieth sagt dazu überhaupt nichts. Er spricht einfach von der Pflicht der Fifa, den eigenen Laden in Ordnung zu halten. Gleich verlaufen die «Interviews» mit zwei Politikern: Keiner sagt etwas zu den E-Mails. Der eine fordert eine strengere Gesetzgebung, der andere ist dagegen. Und der Zuschauer kennt die angebliche oder tatsächliche Brisanz der E-Mails bis zum Schluss des Beitrags nicht.
Fazit zu TV-Interviews in Nachrichtensendungen des Schweizer Fernsehens: Man kann während der Austrahlung ohne weiteres die Kaffeemaschine anwerfen oder einen Snack holen – wahrscheinlich wird man nichts verpassen.