Stevia ist eine Pflanze aus Südamerika, deren Blätter süss schmecken. Im Handel gibt es sie als Pulver, Tabletten, Flüssigextrakt und Granulat. Allerdings haben diese Produkte mit der Pflanze nicht mehr viel zu tun. Der Süssstoff wird industriell aus der Pflanze gelöst. Seit 2011 sind in der Schweiz und in der EU solche Steviolglycoside (E 960) zugelassen. Die südamerikanische Pflanze selbst ist in der Schweiz als Lebensmittel verboten – obwohl sie gesünder und kalorienärmer als Zucker ist.
Das industriell aus Steviablättern hergestellte E 960 steckt beispielsweise in den Ricola-Bonbons, dem Stevia Sweet Crystal der Firma Hermes aus Zürich oder dem Stevia-Süssungsmittel der Firma Steviasol aus Herisau AR. Auf allen drei Verpackungen sind Steviablätter abgebildet. Auf der Coca-Cola-«Life»-Flasche steht: «mit Süsse aus pflanzlichem Ursprung». Alle Produkte werden also mit der Pflanze in Verbindung gebracht. Das soll zeigen: Der Inhaltsstoff ist im Gegensatz zu anderen Zuckerersatzmitteln Natur pur. Tatsächlich aber haben die Steviolglycoside nicht mehr viel mit der natürlichen Pflanze zu tun. Sie werden in einem chemischen Verfahren unter Einsatz von Harzen, Salzen und Alkoholen hergestellt.
Das neue Lebensmittelgesetz sollte mehr Klarheit bei der Deklaration bringen. Beschreibungen und Bilder auf Verpackungen sind verboten, wenn sie den Eindruck erwecken, bei E 960 handle es sich um einen natürlichen Süssstoff. «Natürlich gesüsst» darf fortan auf keiner Packung mehr stehen. Gestattet sind Abbildungen von Steviapflanzen oder -blättern nur noch «mit gleichem Auffälligkeitsgrad» wie der Hinweis auf Steviolglycoside – eine Änderung, die bei den Konsumenten kaum zu mehr Klarheit führt.
Stevia fördert laut Wissenschaftern die Gesundheit
«Natürlich gesüsst» wäre zutreffend, wenn der Bund Stevia als Lebensmittel zuliesse. Die Pflanze hat laut Udo Kienle von der deutschen Universität Hohenheim sogar eine gesundheitsfördernde Wirkung. Der Agrarwissenschafter erforscht Stevia seit dreissig Jahren. Er ist sicher: Die Pflanze trage zur Senkung des Blutdrucks bei, helfe beim Abnehmen und könne Rheumaschmerzen lindern.
Warum also ist Stevia verboten? Laut Bundesamt für Lebensmittelsicherheit ist «die gesundheitliche Unbedenklichkeit der Steviapflanze nicht vollständig belegt». Zudem gehöre die Pflanze zu den Korbblütengewächsen, die für ein hohes Allergierisiko bekannt seien. Es könnte daher Allergiegefahr bestehen, falls ganze Blätter zum Süssen verwendet würden. Nur: Allergiegefahr besteht bei vielen Naturprodukten, etwa Milch oder Sellerie.
Damit Stevia als Lebensmittel zugelassen wird, muss laut Bundesamt die Unbedenklichkeit des Produktes nachgewiesen werden. Aber: Eine Langzeitstudie dazu fehlt. Denn Stevia ist ein Naturprodukt – und das lässt sich nicht patentieren. Jeder könnte die Pflanze kaufen und anbauen. «Kein Unternehmer wirft einen Millionenbetrag für eine Studie auf, wenn er für das Produkt kein Patent einfordern kann», sagt Kurt Steiner vom Verein Pro Stevia aus Bern. Ein positives Studienresultat eröffne jedem anderen Unternehmen die Möglichkeit, Steviablätter zu verkaufen.
Anders bei den Steviolglycosiden: Der Süssstoff wurde patentiert und die Industrie trieb die Zulassung voran. Bereits 2008 legte der US-Agrarriese Cargill der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) eine Untersuchung zur gesundheitlichen Unbedenklichkeit von E 960 vor. Die EFSA kam 2010 zu einer positiven Bewertung. Quelle waren unter anderem die Studien von Cargill und vom japanischen Süssstoffhändler Morita Kagaku. Das Bundesamt für Gesundheit berief sich bei der Zulassung von E 960 im Jahr 2011 auf die EFSA-Empfehlung.
Jeder darf zu Hause Stevia anbauen und verwenden
Im Gegensatz zur Pflanze Stevia haben Steviolglycoside also eine starke Lobby. Und diese betreibt weiter aktives Marketing: Im vergangenen Jahr veröffentlichte die Universität Bonn eine Studie mit dem Ergebnis, E 960 sei ein naturbelassener Süssstoff. Co-Autorin ist die deutsche Chemikerin Ursula Wölwer-Rieck. Sie ist Mitglied im Vorstand der Europäischen Stevia-Gesellschaft (Eustas), einer Lobbyorganisation für Steviolglycoside. Mitglied bei Eustas war auch Ricola. Die Studie unterstützt hat die Firma Pure Circle mit Sitz in Malaysia. Pure Circle ist ein Hersteller von E 960.
Übrigens: Steviapflanzen und -samen sind im Schweizer Handel erhältlich, etwa bei Manor, dem Internetshop Galaxus oder bei Coop Bau & Hobby. Hier wurde Stevia als Gewürzkraut beworben, dessen frische Blätter «zum Süssen von Getränken verwendet» werden, inzwischen hat der Detailhändler den Text geändert.
Stevia anpflanzen ist in der Schweiz nicht verboten. Das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit hat nichts gegen den Verkauf der Pflanze. «Der Eigenkonsum ist lebensmittelrechtlich nicht geregelt.»