Bundesrat Alain Berset versprach nach seiner Übereinkunft mit der Pharmabranche Mitte April 2013, dass 2500 Medikamente endlich billiger würden. Die Krankenkassen sollten in den nächsten drei Jahren total 720 Millionen Franken sparen können. Der Cheflobbyist der Medikamentenhersteller Thomas Cueni von Interpharma bestätigte die von Berset genannten Zahlen in der «Basler Zeitung» und sprach von einem «Kompromiss».
Der unabhängige Experte Andreas Keusch hält das für «Augenwischerei»: «Die Industrie hat sich klar durchgesetzt.» So darf sie bei Preisvergleichen mit dem Ausland weiter mit dem künstlich überhöhten Euro-Wechselkurs von Fr. 1.29 rechnen – statt der aktuellen Fr. 1.23. Das bringt ihr bis zu 500 Millionen Franken bis Ende 2015 (saldo 9/12). Der Bund sorgt zudem dafür, neue Medikamente rascher auf die «Spezialitätenliste» zu nehmen. Arzneimittel, die dort aufgeführt sind, müssen die Kassen in der Grundversicherung bezahlen. Der Bund erteilt den Herstellern zudem leichter Zulassungen für neue Anwendungsbereiche. Hersteller können so ihren Patientenkreis ausweiten.
Als einzige Gegenleistung erklärte die Pharmaindustrie in dieser Vereinbarung, ihre Klagen gegen geplante Preisabschläge des Bundes zurückzuziehen und auf weitere zu verzichten.
Politiker und Pharmavertreter haben Übung darin, tiefere Medikamentenpreise anzukündigen. Laut der Vereinigung Pharmafirmen in der Schweiz können Kassen und Patienten bis Ende 2015 wegen auslaufender Patente 2,3 Milliarden Franken einsparen. Jährlich 400 Millionen Franken sollten laut dem Bundesrat billigere Preise bei Medikamenten ab März 2010 bringen, weitere 240 Millionen Franken die Preisrunde im Mai 2012.
Medikamentenausgaben belasten Krankenkassen und Prämienzahler stark
In Wirklichkeit stiegen die Ausgaben für Medikamente stetig – ausser 2010. Gemäss einer Studie des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums Obsan vom letzten Jahr zahlten die Krankenkassen in der Grundversicherung von 1998 bis 2010 jedes Jahr im Schnitt 4,9 Prozent mehr für Medikamente und medizinische Hilfsmittel. 1998 kostete dies pro Versicherten 344 Franken. 2010 waren es bereits 530 Franken – also 57 Prozent mehr in zwölf Jahren.
Der Kostenzuwachs bei kassenpflichtigen Medikamenten fiel laut dem Obsan sogar grösser aus als der bei den Spitalkosten (3,3 Prozent) oder der ambulanten Behandlung (4,2 Prozent). Gemäss Sacha Roth vom Gesundheitsobservatorium machten die Ausgaben für Medikamente im Jahr 2010 27 Prozent der Kosten in der Grundversicherung aus. Das bedeutet: Jeder vierte Prämienfranken landet bei den Herstellern und Verkäufern von Arznei- und Hilfsmitteln. Dieser Trend hält an (siehe Grafik Seite 10).
Die Hersteller versuchen, den Kostenzuwachs kleinzureden. Etwa Geschäftsführer Thomas Binder vom Verband Pharmafirmen in der Schweiz in einem Vortrag diesen Januar. Er bezeichnet als Kostentreiber kaum beeinflussbare Faktoren wie «das Wachstum der Bevölkerung», die «demografische Entwicklung» und die «Zunahme der chronischen Krankheiten». Als letzten Faktor erwähnt er «die Innovationskraft der Pharmaindustrie».
Diese Argumentation hält einer Prüfung nicht stand:
- Laut Obsan verursachte die Zunahme der Bevölkerung um 10,5 Prozent von 1998 bis 2010 etwa 11 Prozent höhere Medikamentenausgaben. Die Bevölkerungszunahme verändert den Medikamentenverbrauch pro Kopf also nicht.
- Pharmavertreter argumentieren, dass im Land immer mehr Betagte leben, die mehr Arzneimittel bräuchten. Ältere sind – statistisch gesehen – heute jedoch körperlich länger fit als früher. Laut der Obsan-Studie verursacht ein Versicherter 24 Monate vor seinem Tod die höchsten Arzneikosten, unabhängig vom Alter (saldo 17/12). Die Obsan-Forscher führen nur 10,6 Prozent des Wachstums der Nettokosten bei Medikamenten und Material auf die Alterung der Gesellschaft zurück.
- Die Einwohner der Schweiz konsumieren heute kaum mehr Medikamente als früher. Laut der Marktforschungsfirma IMS kaufte jeder Einwohner im Jahr 2005 etwa 24,4 Packungen Medikamente. 2012 waren es 25,8 Packungen.
Josef Hunkeler, früherer Arzneiexperte des Preisüberwachers, sieht andere Ursachen der Kostensteigerung bei den Medikamenten: Die Hersteller würden ständig neue patentgeschützte Präparate zu höheren Preisen lancieren und Ärzte und Spitäler eher teure Mittel auswählen. Markus Fritz, Apotheker und ehemaliges Mitglied der Arzneimittelkommission des Bundes, sieht bei der Industrie eine Doppelstrategie: «Sie akzeptiert die Verbilligung alter Medikamente, damit sie aufgrund fehlender Rentabilität vom Markt verschwinden. Zugleich zielen ihre Werbung und Verkaufsanstrengungen darauf ab, Ärzte und Apotheker neue teurere Produkte abgeben zu lassen.»
Pharmaindustrie ersetzt alte billige durch neue teurere Medikamente
Dass teure Medikamente zunehmend billigere ersetzen, zeigt ein Blick auf die «Spezialitätenliste». So brachten die Pharmahersteller letztes Jahr in etwa gleich viel neue Präparate auf dieser Liste unter, wie sie alte von ihr zurückzogen. Der Haken: Die Neulinge kosten im Schnitt 250 Franken pro Packung, die alten Arzneimittel hatten durchschnittlich nur 130 Franken gekostet.
Konzerne wie Roche konzentrieren sich auf Hochpreismedikamente (siehe Interview rechts). Sie erhöhten den Umsatz mit Krebs- und HIV-Präparaten in der Schweiz laut dem Marktforschungsunternehmen IMS im letzten Jahr um je rund 10 Prozent, bei Medikamenten gegen Autoimmunkrankheiten wie Schuppenflechte, Multiple Sklerose oder Rheuma legten sie 16 Prozent zu. Auf diese Spezialmedikamente entfällt bereits ein Viertel des Inlandsumsatzes.
Bundesrat und Parlament bekämpfen die Preistreiberei nicht ernsthaft: Ärzte und Spitäler verschrieben letztes Jahr für 591 Millionen Franken Originalpräparate mit abgelaufenem Patentschutz, obwohl sie viele durch Generika mit dem gleichen Wirkstoff hätten ersetzen können. Die Kassen hätten so laut dem Branchenverband Intergenerika 180 Millionen Franken gespart. Beispiel: Das Bluthochdruckmittel Losartan Avctavis kostet im 28er-Pack Fr. 15.80, das Original Cosaar ist dreimal so teuer. Doch der Bund behindert Generika, die im letzten Jahr 13 Prozent Marktanteil hatten. Zum Vergleich: In Deutschland liegt er bei 23 Prozent. Die Heilmittelbehörde Swissmedic etwa erhöhte 2013 die Gebühren für die Zulassung eines Generikums von 7000 auf 13 000 Franken. Zudem müssen Hersteller neue Generika in den gleichen Dosierungen, Formen und Packungsgrössen wie das Original anbieten. Generika sind laut Krankenkassenverband Santésuisse in der Schweiz im Schnitt 51 Prozent teurer als in den Vergleichsländern Deutschland, Dänemark, Niederlande, Grossbritannien, Frankreich und Österreich.
Kleine Packungen immer noch teurer als grosse
Der Bund setzt auch falsche Anreize, die höhere Preise begünstigen. Beispiele:
- Belohnung für nichts. Pharmahersteller dürfen laut Gesetz bei «innovativen Produkten» Preisaufschläge von 10 Prozent verlangen, falls sie eine bessere Wirkung oder weniger Nebenwirkungen ihres neuen Medikaments nachweisen können. Beides lässt sich aber seriös erst nach mehreren Jahren beurteilen, sagt Markus Fritz: «Erweist sich eine angebliche Innovation später als Flop, bleibt der Preis trotzdem hoch.»
- Klein ist teurer. Der Bund legt die Preise so fest, dass Arzneimittel in kleinen Packungen oft teurer sind als in grossen. Markus Fritz fordert linear steigende Preise (saldo 2/12).
- Keine gleich langen Spiesse. Pharmahersteller können gegen amtlich festgelegte Preise klagen. Entsprechende Klagen von Roche, Sanofi und Novartis hatten jüngst eine «aufschiebende Wirkung» gegen eine Preiskürzung des Bundes, sodass sie weiterhin zu hohe Preise verlangen durften. Preisüberwacher Stefan Meierhans fordert deshalb ein Rekursrecht für Krankenkassen und Konsumentenorganisationen. Nur so könnten diese sich beim Bundesamt genauso Gehör verschaffen wie die Industrie.
- Falsche Zahlen. Das Bundesamt für Gesundheit rechnet bei Auslandspreisvergleichen mit Fabrikabgabepreisen, also den Herstellerpreisen. Für die Schweiz sind diese aussagekräftig. Bei ausländischen Fabrikabgabepreisen ist das oft anders. Deutsche oder holländische Krankenkassen handeln mit den Herstellern häufig Rabatte für Medikamente aus, was in der Schweiz verboten ist. Laut IMS Health sparten deutsche Kassen mit Rabattverträgen bei patentfreien Medikamenten letztes Jahr 2,5 Milliarden Franken gegenüber den Listenpreisen.
Das Bundesamt für Gesundheit verweist darauf, dass das Verfahren der Preiserhebung gesetzlich festgelegt sei. Zudem seien Rabattverträge im Ausland oft nicht öffentlich.
Die Zeche für amtliche Versäumnisse und Zugeständnisse müssen die Prämienzahler und Patienten begleichen. Laut einem von Santésuisse und den Pharmaverbänden im Februar veröffentlichten Preisvergleich kosten Medikamente in der Schweiz 12 bis 50 Prozent mehr als in den sechs Vergleichsländern. Nach Berechnungen von Josef Hunkeler waren sie im Mai 2013 im Durchschnitt 22 Prozent teurer als in Deutschland.
Je neuer ein Präparat, desto weniger Studien sind dazu vorhanden
Die Preistreiberei gefährdet überdies die Qualität der Versorgung. Laut Andreas Keusch legen Hersteller bei einem Zulassungsantrag für ein Medikament in der Regel eine klinische Studie an Menschen vor, die «optimiert» ist. Sie testeten die Arznei zum Beispiel an Personen, die gesünder sind als die, die sie später verschrieben erhalten, berücksichtigten Studienabbrecher nicht bei der Auswertung, änderten Kriterien oder liessen unliebsame Resultate im Archiv verschwinden (saldo 12/10). Laut Apotheker Markus Fritz haben die zuletzt zugelassenen Medikamente daher oft die höchsten Preise: «Je teurer ein Medikament ist, desto weniger ist es erprobt und desto weniger ist sein Nutzen nachgewiesen.»
Medikamentenpreise: Die Behörden haben das letzte Wort
Die Preise von kassenpflichtigen Medikamenten bestimmen eigentlich nicht die Hersteller, sondern der Staat. Der Bundesrat lässt sich von der Eidgenössischen Arzneimittelkommission beraten, die er selbst zusammensetzt. Kritiker sehen hier die Pharmabranche überrepräsentiert. Die zurzeit 16 Mitglieder prüfen Anträge der Industrie und machen Preisvorschläge, die das Bundesamt für Gesundheit nach Aussage von Kommissionsmitgliedern oft übernimmt. Das Amt entscheidet darüber, wie viel ein Präparat kostet und ob es auf die Liste der Medikamente oder die für Hilfsmittel kommt, welche die Krankenkassen vergüten müssen. Das Amt berücksichtigt dabei die Preise in den sechs Vergleichsländern und die Preise von Medikamenten mit ähnlicher Wirkung.