Etwa alle drei Monate macht Emil Mötteli den Test: Er wandert vom zürcherischen Stallikon auf den nahe gelegenen Üetliberg. «Einfach um zu schauen, ob es noch möglich ist», sagt der 82-Jährige.
Seit bald acht Jahren leidet er unter der Nervenkrankheit Polyneuropathie. Bei ihm sind Füsse und Unterschenkel betroffen. Immer wieder verspürt er einen sehr unangenehmen heftigen Druck: «Es ist, also ob ich ganz enge Socken tragen würde.» Vor allem beim Aufstehen passiere ihm das, sagt der pensionierte Architekt. «Ich kann dann fast nicht mehr gehen und mache ein paar Trippelschritte. So wird es besser.»
Bei Polyneuropathie sind die Nerven in Beinen und Armen geschädigt. Die meisten Betroffenen verspüren einen starken Druck, ein Kribbeln oder auch Schmerzen. Auslöser kann eine andere Krankheit sein, etwa Diabetes oder übermässiger Alkoholkonsum. Doch Ludwig Schelosky, Facharzt für Nervenkrankheiten am Kantonsspital Münsterlingen TG, sagt: «Bei jedem dritten Patienten findet man keine Ursache.» Auch bei Emil Mötteli war das so. In solchen Fällen lassen sich nur die Beschwerden lindern.
«Betroffene Glieder mit Wasser kühlen – ideal ist kneippen»
Doch das ist leichter gesagt als getan. Eine Standardbehandlung, die allen Patienten hilft, gibt es nicht. Schelosky: «Fast immer müssen die Patienten mehrere Therapien ausprobieren.» Auch verlässliche Studien gibt es nur wenige. Der Arzt warnt deshalb vor übertriebenen Erwartungen: «Wenn die Schmerzen um die Hälfte zurückgehen, ist das bereits ein Erfolg.»
Als ersten Schritt empfiehlt er, die betroffenen Glieder zu kühlen. Ideal sei das Kneippen: Wassertreten, Wechselbäder und Bürsten würden den Kreislauf anregen. «Wer wegen den Beschwerden nicht schlafen kann, sollte die Bettdecke nach oben ziehen, sodass die Füsse herausschauen und nicht zu warm haben», so Schelosky. Vermeiden müsse man enge Socken und Schuhe sowie langes Stehen. Auch Akupunktur könne die Beschwerden lindern.
Wenn diese Massnahmen nichts bringen, verschreiben die Ärzte meist Pillen. Die besten Ergebnisse versprechen Medikamente wie Saroten oder Cymbalta. Normalerweise werden sie gegen Depressionen verschrieben. Die Tabletten wirken zusätzlich gegen Schmerzen, Kribbeln und Druckgefühl. Allerdings zeigen Studien, dass diese Mittel bloss etwa jedem dritten Patienten helfen. «Immerhin», befanden 2007 unabhängige Forscher der Organisation Cochrane Collaboration – und stuften die Tabletten als wirksam ein. Das Fachblatt «Arznei-Telegramm» bezeichnet Saroten als «erste Wahl». Das neuere, aber teurere Cymbalta helfe ebenfalls gut.
An zweiter Stelle stehen Epilepsie-Medikamente wie Neurontin oder Lyrica. Sie wirken nach dem gleichen Prinzip wie Antidepressiva: Sie sorgen dafür, dass die Nerven die falschen Reize wie Schmerz oder Kribbeln weniger gut ans Hirn weiterleiten. Diese Mittel helfen jedem fünften Patienten.
Auch Urs Marti. Der 69-jährige Berner nimmt jeden Abend eine Tablette Gabapentin-Mepha, ein Nachahmerpräparat von Neurontin. «Sonst wäre ich zwei Stunden später wieder wach.» Die Krankheit verursache Schmerzen in den Beinen, dazu das Gefühl, «als würden meine Füsse nicht zu mir gehören». Besonders stark sind die Schmerzen, wenn er länger geht. Beim Wandern nimmt Marti meist zwei oder drei Tabletten. «Aber zu viel Chemie will ich nicht schlucken», sagt er. Denn die Pillen führen dazu, dass er manchmal über kleinste Unebenheiten stolpert: «Ich muss verflixt aufpassen.»
Sterben die Nerven ab, muss man die Muskeln stärken
Als letzte Möglichkeit stehen den Patienten Schmerzmittel zur Verfügung. Es helfen jedoch nur Betäubungsmittel wie Tramal oder Oxycontin. Sie führen häufig zu Verstopfung und können abhängig machen. Nervenarzt Schelosky: «Diese Mittel kommen nur in Frage, wenn jemand starke Schmerzen hat und sonst nichts hilft.»
Noch schwieriger wird es, wenn die Nerven abzusterben beginnen: Die Betroffenen verlieren zunehmend das Gespür in den Füssen oder in den Händen. Dagegen sei keine Therapie bekannt, so Schelosky. Das Absterben der Nerven wirkt sich auch auf die Muskeln aus: Es fehlt die Kraft im betroffenen Körperteil, der Gang wird unsicher. Dann sei Physiotherapie gut, sagt Schelosky: Sanfte Massagen, Kraftübungen oder auch ein spezielles Gehtraining stärkten die Muskeln. «Damit lassen sich die Beschwerden lindern.»