Wer nicht mehr gut hört, soll sein Gehirn trainieren – und zwar «genau jetzt». Denn: «Entscheidend ist, frühzeitig zu starten.» Das schreibt das Unternehmen Koj in einem ganzseitigen Inserat für sein Hörtraining. Es erschien kürzlich in einer Beilage des «Tages-Anzeigers». Die Methode: Man sitzt am Computer und übt, Worte besser zu verstehen. Das Versprechen: «Jeder Fünfte kann ein Hörgerät vermeiden.» Koj ist nicht der einzige Anbieter solcher Trainings: Auch die Firmen Neuroth oder Audisana mischen im Geschäft mit. Die Kurse kosten von 250 bis zu 5000 Franken (siehe Tabelle im PDF).
Der Nutzen solcher Trainings bei altersbedingter Schwerhörigkeit ist nicht belegt. «Kein seriöser Arzt oder Psychologe würde sagen, dass Hörtrainings etwas bringen», sagt Martin Meyer, Neuropsychologe an der Uni Zürich. Und Christian Rutishauser, Präsident des Verbands Hörsystemakustik Schweiz, sagt: «Altersbedingte Schwerhörigkeit ist irreparabel. Das sollte jeder Fachmann wissen.» Schwerhörige bräuchten kein Hörtraining, sondern Hörgeräte.
Einige Angebote wie zum Beispiel das Training von Audisana richten sich an Leute mit einem neuen Hörgerät. Grund: Wer dank Hörgerät plötzlich wieder gut hört, ist vielen neuen Eindrücken ausgesetzt. Das Training helfe, mit der neuen «Beschallung» umzugehen. Doch laut Andreas Schapowal, Hals-Nasen-Ohren-Arzt aus Landquart GR, passiert das automatisch: «Wenn man die Hörgeräte den ganzen Tag trägt, mit Menschen spricht und Radio hört, gewöhnt man sich bald daran.»
Das Training von Koj und Neuroth richtet sich auch an «hörentwöhnte» Menschen. Diese hören schon seit längerem nicht mehr gut, besitzen aber kein Hörgerät. Mit der Zeit verliert ihr Gehirn die Fähigkeit, einem Gespräch zu folgen und Worte richtig zu verstehen. Schapowal sagt: «Es gibt nur noch vereinzelt hochbetagte Menschen, die viel zu lange mit dem Kauf eines Hörgeräts zuwarten.» Auch sie bräuchten kein Training.
Neuroth, Audisana und Koj verkaufen auch Hörgeräte
Hörtrainings sind oft auch kostspielig. Das teuerste Angebot ist jenes von Anton Stucki. Er verkauft Bücher, in denen er seine Methode beschreibt. Man braucht einen speziellen Lautsprecher, den «Naturschallwandler». Kostenpunkt: 5000 Franken.
Auffällig ist: Neuroth, Audisana und Koj verkaufen auch Hörgeräte. Das stösst bei Fachleuten auf Kritik. Verbandspräsident Rutishauser sagt: «Diese Trainings sind ein Mittel, um Kunden für Hörgeräte anzulocken.» Über die Anmeldung fürs Training erfahren die Firmen, wer Probleme mit dem Hören hat und daher ein möglicher Kunde für Hörgeräte sei. Das bestätigt Martin Kompis, Leitender Arzt Audiologie am Berner Inselspital: Berichte von Patienten würden darauf schliessen lassen, «dass es in erster Linie um den Verkauf von Hörgeräten geht».
Einen anderen Weg geht der Verein Pro Audito. In seinen Gruppentrainings lernen Schwerhörige das Lippenlesen. Neuropsychologe Meyer sagt: «Ein grosser Vorteil ist, dass man sich trifft und nicht am Computer sitzt.» Ältere Menschen hätten oft Probleme mit Computerprogrammen.
Audisana schreibt saldo, ein Hörtraining könne das Anpassen eines Hörgeräts erleichtern. Auch mit Gesprächen könne man sich an Hörgeräte gewöhnen. Ältere Menschen hätten aber oft wenig Kontakte, daher entspreche das Angebot einem Kundenbedürfnis. Koj bestreitet, mit dem Training Kunden für Hörgeräte anzulocken. Viele Kunden würden sich dank einer erfolgreichen Gehörtherapie sogar gegen ein Hörgerät entscheiden.
Neuroth schreibt, das Training und der Verkauf von Hörgeräten hätten keinen Einfluss aufeinander. Koj und Neuroth sagen, der Nutzen sei wissenschaftlich belegt. Besagte Studien haben aber sehr wenige Teilnehmer oder sind von Koj-Mitarbeitern verfasst.
Stucki betont, dass man den «Naturschallwandler» nicht unbedingt kaufen muss. Man könne auch nur mit den beiden Büchern arbeiten.
Ein Hörgerät verhilft zu neuer Lebensqualität
Haben Sie das Gefühl, dass Sie nicht mehr gut hören? Machen Sie den telefonischen Hörtest des Vereins Pro Audito: Tel. 0900 400 555 (50 Rappen pro Minute, Dauer etwa 5 Minuten).
Lassen Sie sich möglichst rasch ein Hörgerät verschreiben.
Bringen Sie Ihr Hörgerät zum Service, bis es passt. Das kann bis zu einem halben Jahr dauern.
Tragen Sie Ihr Hörgerät von morgens bis abends.
Sprechen Sie mit anderen Leuten, hören Sie Radio oder Hörbücher.