Der Kläger bezeichnet sich als «Wanderarbeiter». Er sei auf Abruf zu Einsätzen bereit, erzählt er dem Gerichtspräsidenten des Richteramts Olten-Gösgen SO. Der Dolmetscher ist gefordert. Er muss rasch übersetzen, denn der Italiener spricht schnell. Er stammt aus einem kleinen Dorf in Kalabrien. Einen grossen Teil seines Lohns, den er in der Schweiz verdiene, schicke er seiner Mutter und seinem kleinen Bruder, sagt er. «Die Familie ist von meinen Einkünften abhängig. Jetzt stehe ich mit leeren Taschen da.» Sein ehemaliger Arbeitgeber habe ihm missbräuchlich gekündigt und ihn um 12 000 Franken geprellt: «Um mindestens 12 000», muss der Dolmetscher wiederholen.
Der Beklagte: «Plötzlich kam er nicht mehr zur Arbeit»
Der ehemalige Arbeitgeber sitzt als Beklagter im Gerichtssaal. Er beschreibt sich als «Ein-Mann-Unternehmen, im Boden- und Plattenbau tätig». Seine Spezialität sei die Verarbeitung von Keramik. Der Richter erklärt ihm das Rechtsbegehren seines ehemaligen Angestellten: «Er verklagt sie wegen missbräuchlicher Kündigung. Zudem sollen Sie ihm zwischen November 2019 und Februar 2020 den Lohn nicht vollständig ausbezahlt haben. Was sagen Sie dazu?»
Der Unternehmer bestreitet, seinem Hilfsarbeiter missbräuchlich gekündigt zu haben. «Ich stellte ihn im Mai ein, mit einer Kündigungsfrist von einem Monat. Am 12. Dezember kam er plötzlich nicht mehr zur Arbeit. Er reagierte auch nicht auf die Anrufe», schildert er. «Und das ausgerechnet vor Weihnachten. Dann ist am meisten los und ich schwimme in der Arbeit.»
Nachdem der Hilfsarbeiter nach einer Woche noch immer nicht zur Arbeit gekommen sei, habe er ihm die Kündigung per Post zugestellt. Der Brief sei zurückgekommen, weil der Kläger offenbar den Wohnsitz gewechselt habe. «Anfang Januar tauchte er dann plötzlich wieder auf und sagte, er sei krank gewesen – ohne ein Arztzeugnis vorzuweisen.» Daraufhin habe er ihm die Kündigung in die Hand gedrückt mit dem Hinweis, er sei per Ende Januar gekündigt.
Der Kläger: «Ein Arztbesuch kostet nur viel Geld»
Der Kläger bestreitet das alles nicht. Er ist aber der Ansicht, dass die Kündigung per Ende Januar nicht rechtens sei. «Ich wusste im Dezember nichts davon.» Die Kündigung gelte erst per Ende Februar, der Beklagte schulde ihm also noch den Lohn für diesen Monat.
Warum er denn nicht einen Arzt aufgesucht habe, fragt der Richter den Hilfsarbeiter. «Weshalb sollte ich zu einem Arzt gehen? Ich war krank und wusste, was ich zu tun hatte: mich ausruhen und schlafen. Ein Arztbesuch kostet nur viel Geld.» Der Richter bohrt nach: «Und warum haben Sie Ihren damaligen Chef nicht über die neue Wohnadresse informiert?» Das sei Privatsache, entgegnet der Hilfsarbeiter, «das ging ihn nichts an».
Damit liege er falsch, klärt der Richter den Italiener auf. Der Arbeitgeber habe sehr wohl einen Anspruch auf diese Information, andernfalls könne er seinen Arbeitgeberpflichten nicht nachkommen. «Er konnte Ihnen nicht kündigen, weil er nicht wusste, wo sie wohnen.»
Doch auch der Beklagte kommt nicht ungeschoren davon. Der Richter fragt ihn, warum er untätig geblieben sei, als die Kündigung von der Post zurückkam. «Sie hätten die neue Adresse leicht herausfinden können.» Der Beklagte nickt und entgegnet: «Ich wusste nicht, wo mir der Kopf steht. Ich hatte so viel zu tun.»
Schliesslich rät der Richter den Parteien, sie sollten einen Vergleich aushandeln, denn beide hätten «unverantwortlich gehandelt». Die beiden sagen zu.
Der Richter: «Sie knausern hier wegen 500 Franken?»
Unbestritten sei, dass dem Kläger noch 500 Franken für den Monat November sowie der volle Lohn von 5500 Franken für den Dezember zustehen würden, fasst der Richter zusammen. Den Januarlohn habe der Kläger erhalten, den Lohn für den Februar sollen sie zur Hälfte aufteilen. «Insgesamt macht das 8700 Franken.»
Für den Beklagten kommt das nicht in Frage. «Mehr als 7000 Franken zahle ich nicht», wehrt er sich. Der Richter bespricht sich kurz mit dem Kläger auf Italienisch und wendet sich erneut dem Beklagten zu: «So, ich habe für Sie 8000 Franken ausgehandelt. Einverstanden?»
Der Beklagte schüttelt erneut den Kopf: «Nein, ich zahle nur 7500.» Das Hin und Her scheint dem Richter allmählich auf die Nerven zu gehen, sein Ton wird schroffer: «Seine halbe Familie in Italien lebt von seinem Lohn, und Sie knausern hier wegen 500 Franken?» Schliesslich schlägt er als Kompromiss 7800 Franken vor. Beide Parteien willigen ein.
Absenzen sofort mitteilen
Angestellte haben nur Anspruch auf Lohn, wenn sie gearbeitet haben. Sind Sie an der Arbeit verhindert, sollten Sie dies dem Betrieb möglichst am ersten Tag der Absenz mitteilen. Bei Krankheit können Arbeitgeber ein Arztzeugnis verlangen, das die Arbeitsunfähigkeit bestätigt. Wer sich ohne Nachricht am Arbeitsplatz nicht mehr blicken lässt, riskiert den Verlust des Lohns und schlimmstenfalls gar eine fristlose Kündigung.
Nicht ratsam ist es auch, eine Stelle von einem Tag auf den andern zu verlassen. In solchen Fällen bleibt nicht nur der Lohn aus. Arbeitgeber haben dann Anspruch auf Schadenersatz in der Höhe von mindestens einem Viertel des Monatslohns.