Einzelkämpfer wie bis anhin oder Ärztenetzwerke? Bei der Frage, wie die Hausärzte künftig ihre Patienten versorgen, sind sich Volk und Politiker bisher uneins.
Der Nationalrat hat zwar im Juni eine Vorlage für eine Versorgung mit Ärztenetzwerken als Standard angenommen. Doch sind laut Forum Managed Care erst rund 900'000 Menschen in solch strengen Hausarztmodellen versichert. Das sind 12 Prozent der Prämienzahler.
Die Managed-Care-Vorlage kommt im Winter in den Ständerat. In ihrer jetzigen Form will sie die ambulante Versorgung über HMO-Gruppenpraxen oder Hausärzte in Ärztenetzwerken zum Normalfall machen.
Das heisst: Der Hausarzt hat die Aufsicht über alle Behandlungen und Kosten des Patienten. Die Befürworter erhoffen sich mehr Qualität bei der Versorgung und geringeren Kostenanstieg.
Bisher profitieren die Versicherten bei solchen Hausarztmodellen von günstigeren Prämien. So sparten sie 2010 zwischen 12 Prozent (etwa bei Sansan oder Progrès) und 25 Prozent (bei Concordia, Swica oder CSS) von der Standardprämie.
«In Zukunft dürften diese Rabatte zwar kleiner ausfallen», prognostiziert der Geschäftsführer des Ärztenetzwerks Medix Zürich, Urs Zanoni. Dafür müssen diese Versicherten ab 2012 gemäss Managed-Care-Vorlage weniger Selbstbehalt an ihre Arztkosten bezahlen als Versicherte mit freier Arztwahl.
Hausarzt als Gesundheitsmanager des Patienten
Im Gegenzug müssen sich Managed-Care-Versicherte bei allen gesundheitlichen Beschwerden an die gleiche Anlaufstelle wenden. In der Regel ist dies ein Hausarzt ihrer Wahl, der einem Ärztenetzwerk oder einem der rund 30 HMO-Zentren angehört.
Dieser nimmt die erste Beurteilung vor, behandelt den Patienten oder schreibt eine Überweisung zum Spezialisten oder ins Spital. Der Hausarzt soll dabei stets den Überblick über alle Diagnosen, Behandlungen und Verschreibungen des Patienten behalten – er wirkt als dessen persönlicher Gesundheitsmanager (siehe unten).
In dieser Rolle soll er unnötige Untersuche, doppelte Tests oder heikle Wechselwirkungen zwischen Medikamenten verhindern. Für Managed-Care-Mitglieder heisst dies: Sie dürfen nicht mehr ohne Zustimmung des Hausarztes einen Spezialisten konsultieren.
Fehlt der Überweisungsschein, kann die Kasse die Erstattung der Kosten verweigern. Ausgenommen sind nur medizinische Notfälle sowie Besuche bei Kinder-, Augen- und Frauenärzten.
Netzwerke ziehen jüngere und gesündere Versicherte an
Keiner weiss, ob das Schweizer Gesundheitswesen an der Managed Care genesen wird. 73 Ärztenetzwerke vereinbarten laut Forum Managed Care 2010 mit Kassen Einsparziele bis 20 Prozent für bestimmte Versichertenkollektive. Bisher hielten die Netzwerke mehrheitlich solche Sparvorgaben ein und bekamen dafür Erfolgsbeteiligungen.
Netzwerk-Vertreter wie Stefan Schütz, Geschäftsführer von Meconex, betonen, dass «wir die Sparziele nicht auf Kosten einzelner Patienten erzielen». Vielmehr sparten die Netzwerke da, wo es die Patienten nicht merkten. So handeln sie mit Labors oder Herstellern günstigere Preise aus, setzen auf Generika, verpflichten ihre Ärzte zur Teilnahme an Qualitätszirkeln.
Den grössten Spareffekt betonen Vertreter der Ärztenetzwerke aber nicht so laut: Hausarztmodelle ziehen vor allem gesündere, jüngere Versicherte an, die weniger Ausgaben verursachen. Eine CSS-Studie berücksichtigte bei einer Analyse von 55'000 HMO-Versicherten die Folgen dieser «Risikoselektion» und bezifferte die Einsparungen dank Managed Care auf 8,7 Prozent.
Die hohen Erwartungen vieler Politiker an Managed Care hält Thomas Rosemann, Professor für Hausarztmedizin an der Uni Zürich, für ungerechtfertigt. Die bisher verfügbaren Zahlen seien wenig aussagekräftig: «Es fehlen klare Daten. Wir verfügen weder international noch in der Schweiz über einen systematischen Vergleich zur Versorgungsqualität und den Kosten von Managed-Care-Praxen und Einzelpraxen.»
USA: HMO-Modell hat das Gesundheitswesen nicht billiger gemacht
Rosemann hält aufgrund internationaler Erfahrungen «Ärztenetzwerke weder für kostensparend noch qualitätsfördernd. Entscheidend ist die Ausgestaltung». In den USA sind über 50 Prozent der Versicherten in HMO-Modellen eingetragen, dennoch ist das US-Gesundheitswesen das teuerste der Welt und qualitativ oft miserabel.
Auch einige hiesige Ärztenetzwerke sind für Rosemann Alibiübungen: «Das sind Einkaufsvereine.» Viele Hausärzte schlössen sich ihnen nur an, um keine Patienten zu verlieren. Auch den Nutzen mancher Qualitätszirkel bezweifelt er: «Kaffeekränzchen bringen niemandem etwas.» Studien zeigten klar, dass eine Fortbildung nicht automatisch die Qualität der ärztlichen Dienstleistung verbessere.
Rosemann fordert daher von Gesundheitspolitikern, mehr Qualität zu fördern. Er verweist auf gute Erfahrungen im englischen Gesundheitssystem mit dem Modell «Pay for Performance», auf Deutsch: Geld für Leistung. Hier geht es darum, Transparenz zu schaffen: Der Hausarzt erhält Geld, wenn er Daten, etwa zur Versorgung Chronischkranker, elektronisch dokumentiert.
Die Ärzte können aus diesen Daten ihre eigene Versorgungsqualität ablesen. Im nächsten Schritt belohnt der Versicherer gute Ärzte mit einem Zusatzhonorar. Von diesem Anreizsystem profitieren laut Rosemann viele: Die Kassen sparen hohe Kosten, die durch die Behandlung unterversorgter Chronischkranker entstünden. Für die Ärzte lohnt es sich, in Qualität zu investieren. Und die Patienten sind besser versorgt.
HMO-Praxisalltag
Die Basler Ärztin Leonie Uebersax arbeitet seit 17 Jahren in einer HMO-Gruppenpraxis und findet dies nach wie vor «eine ideale Lösung».
«Eine Billigmedizinerin» nannten manche Kollegen sie, als Leonie Uebersax 1993 in der Basler HMO-Gruppenpraxis am Klosterberg anfing. Heute hört die 54-jährige Internistin diesen Vorwurf nicht mehr. Denn viele Kollegen arbeiten selbst in Ärztenetzwerken. Auch habe sich herumgesprochen, dass «wir hier gute medizinische Leistungen erbringen».
Ihr Praxisalltag unterscheidet sich wenig von dem anderer Hausärzte: Jeder Patient erhalte die bestmögliche Behandlung. «Das Versicherungsmodell spielt keine Rolle.» Sie schaue oder frage nie nach, ob der Patient HMO-versichert sei. Und sei auch frei in allen medizinischen Entscheidungen: «Mir redet keiner rein.»
Dennoch gibt es Unterschiede zu ihren Kollegen: Uebersax teilt sich eine volle Stelle und das Behandlungszimmer mit einer Kollegin. So hat sie Zeit für ihre Kinder. Und: Als «Gesundheitsmanagerin» trägt sie nach jedem Kontakt mit Patienten Neuigkeiten in deren elektronische Krankenakte ein. Diese haben erst 11 Prozent der Schweizer Hausärzte eingeführt.
Für Uebersax ist sie ein wichtiges Hilfsmittel. Ein paar Klicks verschaffen ihr Überblick über die Krankheitsgeschichte des Patienten. Dies erleichtert ihr, überflüssige Behandlungen zu verhindern. Etwa wenn ein Facharzt eine Computertomografie verordnet, die wenig bringt, oder ein Magen-Darm-Spezialist einer Diabetikerin ein Antibiotikum verschreibt, das sich nicht mit dem Cholesterinsenker der Patientin verträgt.
«Nicht immer lesen Spezialisten unsere Überweisungsschreiben so genau.» 5 Prozent der Arbeitszeit wendet sie für den HMO-Schreibkram auf: «Meine Lieblingsarbeit ist das nicht.» Konflikte mit HMO-Patienten seien selten. Besteht jemand auf einer unnötigen Behandlung, so versucht sie herauszufinden, was ihn antreibt: «Oft stecken Ängste dahinter.»
Sie glaubt, «mehr Zeit mit Reden zu verbringen» als niedergelassene Kollegen. Ihr Salär bemesse sich nicht danach, ob sie viele EKGs oder Labortests abrechne. Als Angestellte erhalte sie einen «konkurrenzfähigen Lohn».
Ein dritter Unterschied sei, dass ihr Arbeitgeber ihr die Teilnahme an Qualitätszirkeln verordne. Einmal die Woche bespricht sie mit den Praxiskollegen Fälle, rund zehn Mal im Jahr tauscht sie sich mit anderen Hausärzten aus – alles in der Arbeitszeit. Den Dialog hält sie für «befruchtend» und kostensparend. «Wir halten uns so auf dem aktuellen Stand des Wissens.»
Dennoch hält sie das HMO-Modell nicht für ein Allheilmittel. Für ärztliche Einzelkämpfer tauge es nichts. Genauso wenig für Patienten, die sich stets von Spezialisten behandeln lassen wollen.