Gratiszeitungen: Kurzfutter, Kommerz und Kostenfallen
saldo hat eine Woche lang die Gratisblätter «20 Minuten» und «Blick am Abend» gelesen. Fazit: Die Blätter beugen sich den Bedürfnissen der Werbewirtschaft.
Inhalt
saldo 09/2010
09.05.2010
Letzte Aktualisierung:
11.05.2010
Rolf Hürzeler
Husky Bingo hat sich geirrt. Er frass das acht Wochen alte Baby Emily auf, weil er glaubte, es sei Hundefutter. War es aber nicht. Das ist eine der Geschichten aus der Pendlerzeitung «Blick am Abend». Lesern, denen das Schicksal der armen Emily nicht nahegeht, können auf der gleichen Zeitungsseite trotzdem einen Schauder erleben. Der englische Astrophysiker Stephen Hawking warnt vor den Gefahren Ausserirdischer. Weitere Nachrichten des Tages: Vergewaltigte Kinder in der T&uum...
Husky Bingo hat sich geirrt. Er frass das acht Wochen alte Baby Emily auf, weil er glaubte, es sei Hundefutter. War es aber nicht. Das ist eine der Geschichten aus der Pendlerzeitung «Blick am Abend». Lesern, denen das Schicksal der armen Emily nicht nahegeht, können auf der gleichen Zeitungsseite trotzdem einen Schauder erleben. Der englische Astrophysiker Stephen Hawking warnt vor den Gefahren Ausserirdischer. Weitere Nachrichten des Tages: Vergewaltigte Kinder in der Türkei, Teenager-Prostitution in der Schweiz und die Memoiren von George W. Bush.
Die Welt der morgendlichen Konkurrenz «20 Minuten» präsentiert sich der Leserschaft gleichentags etwas erfreulicher: Ein Basler Model freut sich über einen Werbevertrag für Strümpfe, eine künftige Schweizer Astronautin springt zehn Kilometer in die Tiefe («sogar besser als Sex»), und, wahr oder nicht, 20‘000 Prostituierte bevölkern die Schweiz. Dafür fehlen die Ausserirdischen im Blatt. Aber wenigstens eine Hundegeschichte ist drin: Ein angeblich schwuler Blindenhund in Australien erweist sich als hetero.
Eine bunte Mischung aus skurrilen Meldungen, Sex und Weltgeschehen
Das ist ein zugegebenermassen willkürlicher Auszug aus den Meldungen vom 26. April der beiden überlebenden Gratis-Tageszeitungen der Deutschschweiz: dem Branchenführer «20 Minuten» von Tamedia mit einer Auflage von 540‘000 Exemplaren und Ringiers «Blick am Abend» mit 230‘000 Exemplaren. Wer mit dem öffentlichen Verkehr in die grossen Städte pendelt, kommt an diesen Blättern kaum vorbei.
Die Vermischung der Meldungen ist für die Leser verwirrend. Neben all den skurrilen Hunde- und Sex-Berichten enthalten die beiden Zeitungen nämlich auch ernst zu nehmende Meldungen – nach dem Prinzip: das Wichtigste in Kürze. So berichten die Gratisblätter ausführlich über die Ölkatastrophe im Golf von Mexiko. Oder «20 Minuten» bringt seinen Lesern in einer kleinen Reportage die Nöte der Bevölkerung auf Haiti näher. Und der «Blick am Abend» fasst die Kritik an Finanzminister Hans-Rudolf Merz nach dessen Auftritt beim Internationalen Währungsfonds zusammen.
Eine politische Einordnung von Meldungen sucht man als Leser vergeblich. Das auch dort, wo man zum Verständnis der Texte darauf angewiesen wäre. So berichtet «20 Minuten» von der freisinnigen Kritik an den Boni der CS-Manager. Aber nirgends steht, dass die FDP da-mit vor allem von ihrem auch parteiintern umstrittenen Verzicht auf die Weissgeld-Strategie ablenken will.
Ähnlich beim «Blick am Abend»: Das Blatt stellt auf einer Zweidrittelseite plausibel dar, warum Deutschland Griechenland nicht so einfach aus der finanziellen Klemme befreien kann. Aber es fehlt ebenfalls jeglicher Hintergrund zum Verständnis. Mit andern Worten: Die Gratiszeitungen lassen die Leserschaft mit den Nachrichten alleine.
Gratiszeitungen müssen denn auch in erster Linie den Bedürfnissen der Werbewirtschaft entgegenkommen. Die-se zahlt die volle Zeche, da bei Gratisblättern die Verkaufserlöse der Leser wegfallen. So akzeptieren beide Blätter in den redaktionellen Text verteilte Mini-Inserate für Kleinkredite. Die Leser stolpern mitten in der Lektüre von kurzen Meldungen über gelbe Notizen, die ihnen zeigen, wie leicht man Kredite aufnehmen kann.
«20 Minuten» trumpft in dieser Woche in der Ostschweizer Ausgabe mit einem Mantel-Inserat auf, das die Frontseite vollumfänglich mit einem Küchen-Interieur ziert. Der Leser hat damit am Morgen zuerst einmal eine Art Prospekt in der Hand, bevor er zum journalistischen Lesestoff vordringt.
Versteckte Werbung: Von Öko-Unterhosen bis zum Prügel-Game
Die Redaktionen haben auch keine Hemmungen, Werbung versteckt in ihre Blätter einzurücken. So wirbt der «Blick am Abend» auf der Seite «Life» von Öko-Unterhosen über Ständerlampen bis zu Ketchup so ziemlich für alles, was das Werberherz von ihnen wünschen mag. «20 Minuten» wirbt unter der Rubrik «Gamezone» für ein Computerspiel mit einer «exzellenten 2-D-Prügelorgie».
Oder unter «Lifestyle» für Espadrilles-Sandalen, die angeblich ein «Revival» erleben, und für ein Duftwasser, das nach einer Mischung aus «Bitterorange, Kaffeebohnen, Geranien und Veilchen» riecht.
Die Werbung wird mitunter dick aufgetragen. So preist «20 Minuten» auf einer Viertelseite das Sammeln von Panini-Bildchen auf der verlagseigenen Internet-Plattform Piazza an. Und darunter wirbt Piazza halbseitig für den Kauf von Brautkleidern via Computer – mit dem Zusatz «Powered by 20 Minuten Online». Da wirbt das Gratisblatt für die Internet-Plattform und umgekehrt.
Pendlerzeitungen kämpfen darum, dass die Leser gewohnheitsmässig zum Blatt greifen. Ein gutes Mittel sind dafür Kolumnen, zum Beispiel die Ratschläge von «Doktor Sex» in «20 Minuten». Der arme Herr Dr. Sex, sofern es ihn denn gibt, muss sich mit Fragen wie «Pariser im Portemonnaie – ja oder nein?» herumquälen. Beim «Blick am Abend» gehts nicht so direkt zur Sache, denn das besorgt die Beraterin Eliane im kostenpflichtigen Mutterblatt.
Dafür erteilt eine Aufklärerin gute Ratschläge. So vertröstet sie einen hormonell herausgeforderten 16-Jährigen auf eine bessere erotische Zukunft («Es wollen mich alle nur als Kollegen»).
Einträgliche Geldquelle: Kostenpflichtige SMS und Gewinnspiele
Gratiszeitungen sind für die Leser nur scheinbar kostenlos. In Wirklichkeit sind sie tägliche kleine Kostenfallen. Beide Blätter bieten interaktive Spiele für Mobiltelefone an, die bei aktiven Nutzern finanziell ins Tuch gehen. So lädt ein «John Twenty» in «20 Minuten» zum Beantworten einer Tagesfrage, die den Leser zwingt, den Comic genauer zu studieren, Kosten: 1 Franken pro SMS. Und die Lösungsworte für das Kreuzworträtsel oder Sudoku sind für den gleichen Preis einzusenden.
«Blick am Abend» lässt seine Kundschaft täglich über die persönlichen Aufzeichnungen eines Lesers abstimmen: «Soll Lucas weiterschreiben?» für 70 Rappen pro SMS. Verliebte können im «Schatzchäschtli» zum gleichen Preis ihre Liebesschwüre loswerden: «Hei mi Knudelbär, i bi mega froh...»
Die Rechnung für den Leser ist schnell gemacht: Je ein einziges SMS pro Gratiszeitung ergibt Fr. 1.70 täglich, macht Fr. 8.50 die Woche, also rund 380 Franken jährlich (Ferien und Feiertage eingerechnet). Das ist etwa so viel, wie das Abonnement einer Tageszeitung kostet.