Die 93-jährige Margrit Greub aus Liestal BL wollte nie ins Heim. Ihre Befürchtung: «Dort kann ich nicht mehr richtig am Leben teilhaben.» Als sie vor zehn Jahren nach einer Operation ihr Haus aufgeben musste, zog sie zu ihrem Sohn und seiner Frau.
Das ist typisch: 86 Prozent der über 60-Jährigen können sich laut einer Schweizer Studie nicht vorstellen, freiwillig ins Heim zu gehen. Doch die Realität sieht oft anders aus: Über 93 000 Menschen leben zurzeit in den 1570 Schweizer Pflegeheimen. Dabei müsste jeder Dritte von ihnen gar nicht im Heim wohnen. Das besagt eine neue Studie der Stiftung Avenir Suisse. Demnach benötigen in den Pflegeheimen der Kantone St. Gallen, Glarus, Schaffhausen, Schwyz, Zug und Appenzell Innerrhoden über 40 Prozent der Bewohner keine oder weniger als 60 Minuten Pflege pro Tag. In Pflegeheimen im Kanton Zürich sind es 39 Prozent, im Aargau 35, in Basel-Stadt 31 und in Bern 28 Prozent (siehe Tabelle im PDF).
Weniger Unterstützung von Angehörigen
Altersforscher François Höpflinger schätzt, dass «bis zu 20 Prozent der Bewohner aus sozialen Gründen ins Heim kamen». Sprich: Häufig können sie sich nicht mehr allein versorgen, manche wohnen zu abgelegen. Viele leiden zunehmend an Demenz. Andere kommen nach einer Operation nicht mehr auf die Beine. Carlo Knöpfel, Fachmann für Altersfragen und Professor an der Fachhochschule Nordwestschweiz, nennt ein weiteres Problem: Immer häufiger bekommen Hilfsbedürftige zu wenig Unterstützung von Angehörigen. Die ambulante Versorgung durch bezahlte Dienstleister funktioniere zudem nicht überall «angemessen». Auch könnten sich viele mit geringem Einkommen hauswirtschaftliche Spitex-Dienste nicht leisten.
Der frühe Eintritt kommt Heimbewohner, Steuerzahler und Krankenkassen teuer zu stehen: Studien zeigen, dass es günstiger ist, Senioren, die unter 60 Minuten Pflege pro Tag brauchen, zu Hause zu versorgen – mit Hilfe von Angehörigen, Spitex, Mahlzeiten- und Fahrdiensten. Billiger sind auch betreutes Wohnen oder Alterswohnungen mit Alarmknopf und Mahlzeitenservice.
Wie aber lässt sich verhindern, dass Gesunde im Pflegeheim landen? Viele Kantone müssten zuerst ihre Aufnahmeregeln verschärfen. Der Kanton Genf nimmt zum Beispiel nur Senioren auf, die 120 Minuten Pflege und mehr am Tag benötigen. Die Kantone müssten dann die Lücken in der ambulanten Versorgung schliessen.
François Höpflinger sagt, dass es in vielen Regionen keine Alterswohnungen oder Angebote für betreutes Wohnen gebe, die sich Senioren mit kleinen Einkommen leisten könnten.
Laut Markus Leser von Curaviva Schweiz, dem Dachverband der Heime und Institutionen, ist vor allem auf dem Land das Wohnangebot mit ambulanten Dienstleistungen oft eingeschränkt. Das bestätigt eine Untersuchung des Gesundheitsobservatoriums Obsan.
Die Behörden müssten Senioren zudem besser über Alternativen zum Heim aufklären. Das fordert Jérôme Cosandey, Autor der Avenir-Suisse-Studie. Beispiel Kanton Schwyz: Laut einer Studie hatten 70 Prozent der neuen Heimbewohner mit geringem Pflegebedarf vor dem Eintritt keinen Kontakt mit der Spitex.
Bessere Finanzierung ambulanter Wohnangebote
Hilfsbedürftige Senioren mit niedrigem Einkommen kommen oft ins Heim, weil sie sich nichts anderes leisten können. Dabei kämen viele von ihnen für das betreute Wohnen in Frage. Solche Angebote kosten laut Curaviva 2500 bis 3500 Franken pro Monat. Hilfsbedürftige haben ein Anrecht auf staatliche Ergänzungsleistungen (EL). Die Kantone regeln deren Höhe. Der Haken: Der Staat übernimmt bei EL die Mietkosten einer Einzelperson nur bis 1100 Franken im Monat. Heimkosten hingegen trägt zum Beispiel der Kanton Baselland unbegrenzt, obwohl das Heim unterm Strich viel teurer kommt als das betreute Wohnen. Bei den meisten Kantonen ist das ähnlich, auch wenn sie EL bei Heimkosten deckeln. Markus Leser bezeichnet dies als «Fehlanreiz im System».
Curaviva fordert deshalb, EL-Bezügern, die betreut wohnen oder eine Alterswohnung beziehen wollen, vergleichbare Ansätze wie im Heim zu zahlen. Immerhin: Der Kanton Graubünden hat letztes Jahr entschieden, zusätzliche EL-Beiträge für den Aufenthalt in betreuten Wohnungen auszurichten.