Nur selten finden Gerichtsverhandlungen ausserhalb der Gerichtsräume statt. In diesem Fall ist es aber nötig: Der Präsident des Bezirksgerichts Aarau bestellt die beiden Streitparteien zu einem Ortstermin. Es ist einer der letzten heissen Sommertage. Doch morgens um acht Uhr ist es in der Einfamilienhaussiedlung in Aarau noch kühl. Bei den beiden Parteien handelt es sich um zwei benachbarte Paare. Sie versammeln sich mit ihren Anwälten und dem Richter auf der Quartierstrasse vor ihren Häusern.
Einmal müssen sie kurz zur Seite treten, als sich ein Velofahrer den Weg durch die Gruppe bahnt. Die Grundstücke der Parteien sehen sehr unterschiedlich aus. Die Kläger bewohnen ein neueres Haus. Die Einfahrt ist betoniert. Ums Haus herum findet sich kein grünes Blatt. Ganz anders die Liegenschaft der Beklagten: Das ältere Haus versteckt sich hinter Bäumen und Büschen.
«Hecke wurde erst vor wenigen Tagen zurückgeschnitten»
Die Kläger finden, dass die Hecke und die Bäume des benachbarten Ehepaars zu hoch sind und zu nah an ihrem Grundstück stehen. Sie fordern den Rückschnitt der Pflanzen. Ihr Anwalt behauptet: «Die Hecke wurde erst vor wenigen Tagen zurückgeschnitten.» Normalerweise sei sie viel höher. Vorher hätten auch Äste über die Grenze geragt. Der Anwalt der Heckenbesitzer protestiert: «Das stimmt nicht. Man sieht: Alles ist gepflegt.»
Der Einzelrichter inspiziert jede einzelne Pflanze. Zuerst ist eine Blutpflaume dran. Der Richter hält fest: «Der Strunk ist etwa 2,70 Meter hoch.» Der Grenzabstand betrage 1,30 Meter. Der Baum sei zurückgeschnitten und kein grünes Blatt mehr sichtbar. «Der Baum war vorher aber etwa 4,50 Meter hoch», wendet der Anwalt der Kläger ein. Ein Baum dieser Höhe müsse gemäss kantonalem Recht einen Abstand von 2 Metern zur Grenze einhalten. Als Nächstes vermisst der Richter mehrere Kirschlorbeer- und Nadelbäume.
Der Kläger kommt mit einer 3 Meter langen Messlatte zu Hilfe. Das ist die zulässige Höhe für solche Bäume bei einem Grenzabstand von 1 Meter. Die Bäume liegen mit 2,60 bis 3 Meter Höhe im erlaubten Rahmen. Der Anwalt der Kläger sagt: Auch diese Bäume seien gerade erst zurückgeschnitten worden. Als Letztes vermisst der Richter einen 1,80 Meter hohen Haselstrauch. Bei ihm sind frische Schnittstellen ersichtlich. Der Prozess wird nach der Besichtigung im Gerichtsgebäude in Aarau weitergeführt.
Der Richter fragt, seit wann die Bäume dort stünden. Der Kläger sagt: «Wir zogen 2015 ein.» Seither streite man wegen der Pflanzen. Die Beklagten geben zu, die Bäume frisch zurückgeschnitten zu haben, die Blutpflaume vor einem Tag, die anderen Bäume vor mehreren Tagen. Sie würden die Pflanzen jedoch regelmässig zurückschneiden. Der Kläger verwirft die Hände: «Der Laubbaum wurde zum ersten Mal geschnitten.» Der Rest sei lediglich sporadisch gestutzt worden. «Die Bäume nehmen uns das Licht weg.»
«Es ist nicht angenehm, nebeneinander zu wohnen»
«Das ist vom Sonnenstand her gar nicht möglich», entgegnet die beklagte Nachbarin. Die Klägerin suche stets etwas Neues zum Kritisieren. «Es ist nicht angenehm, nebeneinander zu wohnen.» Der Richter versucht, den Streit einvernehmlich zu lösen. Die Nachbarn ringen zwei Stunden um einen Vergleich. Sie sind sich einig, dass die gesetzlichen Grenzabstände eingehalten werden sollen. Schliesslich unterschreiben sie den Vergleich: Die Beklagten entfernen die Blutpflaume und den Haselstrauch.
Die anderen Bäume werden zweimal im Jahr auf 2,50 Meter zurückgeschnitten. Die Gerichtskosten von 1000 Franken werden halbiert. Jede Partei zahlt ihren Anwalt selbst.
So regeln Kantone die Abstände von Hecken
Jeder Hausbesitzer darf sein Grundstück einzäunen oder eine Hecke pflanzen. Die Kantone regeln in ihren Gesetzen, wie nah an der Grenze und wie hoch die Abgrenzung sein darf. In BaselStadt, Glarus, Nidwalden und Solothurn darf man eine Hecke auf die Grenze setzen. In den meisten anderen Kantonen müssen Eigentümer einen Abstand von 50 bis 60 Zentimeter einhalten – bei höheren Hecken auch mehr. Im Einverständnis können Nachbarn Hecken auch näher an die Grenze setzen.