Das Versicherungsgericht des Kantons Solothurn wollte es genau wissen: Am 24. Oktober um 9 Uhr vormittags erschienen drei Richter und ein Gerichtsschreiber am Tatort in Oensingen SO zu einem Augenschein. Anwesend waren auch der Kläger Arnold Nef (Name geändert), sein Anwalt Claude Wyssmann, eine Anwältin der Invalidenversicherung (IV) sowie ein Privatdetektiv. Das Gericht wollte herausfinden, wie der Detektiv den kranken Nef ausspioniert hatte.
Der bald 60-jährige Nef arbeitete ab 1981 als Kranführer. Im Juli 2010 wurde ihm das erste Mal schwindlig und schlecht: «Wie wenn ich zu viel Alkohol getrunken hätte.» Er bekam Gleichgewichtsprobleme und hörte schlecht. Ein Hals-Nasen-Ohrenarzt diagnostizierte die Krankheit Morbus Menière.
Ab Januar 2012 erklärte der Arzt den Kranführer zu 100 Prozent arbeitsunfähig. Die Krankentaggeld-Versicherung seines Arbeitgebers zahlte ihm zwei Jahre lang 80 Prozent seines Lohns. Nef meldete sich bei der IV für eine Rente an. Der Antrag wurde abgelehnt. Er ist auf Sozialhilfe angewiesen.
Aus den Akten geht hervor: Die IV-Stelle Solothurn erhielt im Februar 2013 einen anonymen Anruf. Nef sei gesund. Er könne sogar Auto fahren. Nur: Nef hat gar keinen Führerschein. Trotzdem liess ihn die IV im Juli 2013 von einem Detektiv beschatten.
Detektiv: «Die Person wirkt frisch, agil und fröhlich»
An drei Tagen filmte ein Ex-Polizist Nef in seinem Garten. Am ersten Tag beschrieb er, wie Nef mit einer Nachbarin sprach und den Sonnenschirm abdeckte. «Während der kurzen Überwachungsphase kann eine sehr zufriedene Person in ihrem Gartensitzplatz gesehen werden.» saldo liegt die 26-sekündige Videoaufnahme vor. Nef ist kaum zu erkennen, geschweige denn seine Mimik.
Am zweiten Observations-Tag beschreibt der Ex-Polizist, wie Nef ein Poolreinigungsgerät auf Rädern holt, eine Schubkarre schiebt und Feuer macht. «Die Person wirkt frisch, agil, fröhlich und auch konzentriert. Einschränkungen, insbesondere in der Gehfähigkeit, können nicht festgestellt werden.»
In der 50-minütigen Aufnahme vom dritten Tag sieht man, wie Nef im Garten sitzt und ab und zu raucht. Der Beschatter findet, Nef wirke nicht «ganz so frisch» wie sechs Tage zuvor. Und weiter: «Die Person hinterliess den Eindruck, als hätte sie einfach zu wenig Arbeit, und wirkte dadurch sehr gelangweilt.»
Detektiv zog sogar medizinische Schlussfolgerungen
Die IV-Stelle liess Nef und die Observationsergebnisse begutachten. Die Gutachter befanden, dass Nef nicht mehr als Kranführer arbeiten könne, sonst aber zu 80 Prozent arbeitsfähig sei. Ein zweites IV-Gutachten kam zum gleichen Resultat.
Nef suchte Hilfe beim Solothurner Anwalt Claude Wyssmann, der ein weiteres Gutachten in Auftrag gab. Resultat: Die IV-Gutachter hätten sich «vom dilettantischen Rapport des beauftragten Detektivs» beeinflussen lassen. Dieser habe sich sogar erlaubt, medizinische Schlussfolgerungen zu ziehen. Der zweite Experte schätzt Nefs Arbeitsfähigkeit in einem sitzenden Beruf auf 0 bis 20 Prozent.
Wyssmann gelangte ans Versicherungsgericht. Die Aufnahmen des Detektivs und die beiden IV-Gutachten dürften nicht verwendet werden. Das Gericht gab ihm recht: Die Observation war illegal. Die IV-Stelle muss ein neues Gutachten in Auftrag geben. Es muss die Arbeitsfähigkeit nach medizinischen Kriterien beurteilen.
Die Polizei kann ermitteln
Am 25. November entscheiden die Stimmbürger, ob AHV, IV, Unfallversicherungen und Krankenkassen bei Verdacht auf Versicherungsmissbrauch die Versicherten künftig ohne richterliche Genehmigung verdeckt observieren dürfen. Bei Verdacht auf Versicherungsmissbrauch oder -betrug ist jedoch die Polizei und die Staatsanwaltschaft zuständig. Kritiker sagen deshalb, teure Privatdetektive auf Kosten der Prämienzahler seien unnötig.