Die Massnahmen der Behörden gegen das Coronavirus setzen dem Gastgewerbe zu. Die Branche stehe «kurz vor einem Kollaps», sagt Casimir Platzer, Präsident des Branchenverbands Gastrosuisse. Er verweist auf eine Umfrage unter den Verbandsmitgliedern. Demnach steckt mehr als die Hälfte der Betriebe in finanziellen Schwierigkeiten. Zwei von fünf Verbandsmitgliedern befürchten, innerhalb des nächsten halben Jahrs schliessen zu müssen. Platzer: «Es droht der Verlust von 100 000 Stellen.»
Bereits die dringende Empfehlung des Bundesrats vom 18. Oktober, Angestellte wenn immer möglich ins Homeoffice zu schicken, führte in der Gastronomie zu starken Umsatzeinbussen. Jetzt hat sich die Situation noch verschlimmert: Seit einer Woche dürfen Beizer noch maximal vier Gäste pro Tisch bewirten und das Lokal längstens bis 23 Uhr öffnen – wenn sie nicht sogar einstweilen ganz schliessen müssen, wie etwa im Kanton Jura.
Wo noch offen ist, dürfen Restaurantgäste neu die Gesichtsmaske erst ausziehen, wenn sie am Tisch sitzen. Auch wegen dieser Auflage verzichten viele Leute auf Gaststättenbesuche. Die Zürcher Gastrogruppe Holenstein hat die Konsequenzen gezogen: Nach einem neuerlichen Umsatzeinbruch, unter anderem wegen der Maskenpflicht in Bars und Restaurants, schloss Holenstein ihre 15 Lokale bis auf Weiteres.
«Ich frage mich schon, warum das Coronavirus auf dem Weg zum Tisch aktiv sein und am Tisch inaktiv werden soll», bringt Oliver von Rickenbach, Geschäftsführer des Hotels Zugertor in Zug, den Ärger vieler seiner Kollegen auf den Punkt. saldo fragte beim Bundesamt für Gesundheit nach: Gibt es Untersuchungen, die belegen, dass in Gastrobetrieben das Ansteckungsrisiko unterwegs zum oder vom Tisch grösser ist als sitzend am Tisch? Das Amt konnte keine einzige Studie nennen. Es begnügte sich mit der Behauptung, das Risiko und die Zahl der Infektionen nähmen zu, wenn sich Leute im Restaurant bewegten. Sie würden dann auf andere Gäste treffen und könnten den Mindestabstand nicht mehr einhalten. Allerdings: Bei der Corona-App geht der Bund davon aus, dass sich grundsätzlich nur anstecken kann, wer sich mindestens 15 Minuten lang in weniger als 1,5 Metern Distanz zu einer infizierten Person befindet.
Gastrobranche: Rasanter Anstieg der Arbeitslosigkeit
Die neuen Corona-Massnahmen bringen nicht nur Wirte in Not, sondern auch ihre Angestellten. Schon vor der Verschärfung der Auflagen war die Situation für das Personal prekär: Ende September zählte das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) in der Gastrobranche 13 553 registrierte Arbeitslose. Das sind rund 80 Prozent mehr als vor einem Jahr.
Die Arbeitslosenquote im Gastgewerbe kletterte innert Jahresfrist von 4,1 auf 7,3 Prozent. Über alle Branchen hinweg lag sie Ende September bei 3,2 Prozent.
Noch unbekannt ist, wie viele Gastroangestellte im August, September und Oktober Kurzarbeitsentschädigung erhielten. Diese Zahlen kann das Seco erst in ein paar Tagen liefern. Im Juli waren es 52 363 Personen – inzwischen dürften es weit mehr sein. Zum Vergleich: Im Februar waren nur 70 Angestellte dieser Branche auf Kurzarbeit.
Kurzarbeit und Arbeitslosigkeit bedeuten für viele Betroffene, dass sie von heute auf morgen mit nur noch 80 oder gar 70 Prozent ihres bisherigen Lohnes auskommen müssen. Das wirkt sich in Tieflohnbranchen wie dem Detailhandel und dem Gastgewerbe besonders drastisch aus.
So beträgt der Mindestlohn inklusive Anteil 13. Monatslohn im Gastgewerbe für Angestellte ohne Berufsausbildung brutto 3759 Franken und für Angestellte mit dreijähriger Berufslehre brutto 4545 Franken pro Monat. Bei Betriebsunterbruch und Kurzarbeitsentschädigung von 80 Prozent verbleiben Ungelernten brutto 3007 Franken. Netto, also nach allen Lohnabzügen, sind es noch knapp 2600 Franken. Dieser Betrag liegt unter der Armutsgrenze für Einzelpersonen. Die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe beziffert die Armutgrenze in einem aktuellen Grundlagenpapier auf 2740 Franken.
Noch deutlicher unter die Armutsgrenze fallen Betroffene, wenn sie mit ihrem Einkommen den Lebensunterhalt von Kindern oder einer ganzen Familie finanzieren müssen. Denn die Limite liegt etwa für ein Paar ohne Kinder bei 3923 Franken, für eine Einzelperson mit zwei Kindern bei 4130 Franken pro Monat. Gastroangestellte mit dreijähriger Lehre, die ihren Job verlieren, kommen mit 80 Prozent des Mindestlohns auf ein Nettoeinkommen von rund 3320 Franken und mit 70 Prozent gar auf nur 2900 Franken.
Laut Stefan Unternaehrer von der Gewerkschaft Hotel & Gastro Union ist nicht bekannt, wie viele Angestellte im Gastgewerbe zum Mindestlohn arbeiten. Klar ist: «Ungelernte trifft es häufiger als Gelernte.» Und in Tourismuskantonen sei der Mindestlohn weiter verbreitet als in anderen Kantonen. Das lässt erahnen, dass die Zahl der Armutsgefährdeten allein in dieser Branche zurzeit wohl in die Zehntausende geht.