saldo: Jeden Tag veröffentlichen die Behörden Zahlen von Neuinfizierten und Gestorbenen. Was sagen diese Zahlen aus?
Pietro Vernazza: Die Zählerei von Infizierten und der Ruf nach mehr Tests bringen nicht viel. Die einzelnen Länder hätten die Möglichkeit, verlässliche Zahlen zu erfassen, die für Ärzte und Forscher wichtig wären. Die Geschwindigkeit der Ausbreitung des Virus ist aber in allen Ländern gleich. Deshalb ist die Zahlenakrobatik müssig.
Welche Zahlen wären denn verlässlich?
Sicher die Zahl der Todesfälle. Da haben wir aber das Problem der Zusammensetzung der Bevölkerung. Die meisten Leute, die in der Coronastatistik aufgeführt sind, sterben nicht an Covid-19. Viele haben gar keine oder nur schwache Symptome. Wissenschaftliche Studien aus China zeigen, dass 85 Prozent aller Infektionen erfolgten, ohne dass sie von den Betroffenen bemerkt wurden. 90 Prozent der verstorbenen Patienten sind nachweislich über 70 Jahre alt, 50 Prozent über 80. Italien hat die zweitälteste Bevölkerung der Welt. Singapur mit sehr wenig Coronafällen hat hingegen eine sehr junge Bevölkerung. Die Schweiz liegt irgendwo dazwischen. Die Zahlen der einzelnen Länder lassen sich nicht miteinander vergleichen, ohne die Altersstruktur einzubeziehen.
Zurzeit wird in vielen Labors, Universitäten und Spitälern nach einem Impfstoff geforscht. Wäre es nicht besser, zusammenzuarbeiten?
Das machen wir. Gesamtschweizerisch bildeten wir sofort eine Einheit von Infektiologen. Wir tauschen Behandlungsstrategien aus, führen eine Zusammenarbeitsplattform und sind regelmässig über Telefonkonferenzen in Kontakt. Im wissenschaftlichen Betrieb haben Kantonsgrenzen nichts zu suchen. In der Forschung ist es von Vorteil, wenn verschiedene Experten unterschiedliche Ansätze verfolgen. Das ist auch eine Chance und führt zu wissenschaftlichem Wettbewerb.
Im deutschen Bundestag wurde bereits 2013 ein Pandemieplan des Robert-Koch-Instituts vorgestellt. Dieser nahm in vielen Teilen vorweg, was jetzt 2020 eintraf. Haben der Bundesrat und das Bundesamt für Gesundheit die Coronakrise verschlafen?
Nein, die Schweiz ist nicht so schlecht vorbereitet. Und auch unsere Pandemiepläne sind nicht schlecht. Überrascht bin ich einzig über die fehlenden wissenschaftlichen Grundlagen für einige politische Entscheide. Der Bund macht seine Sache nicht so schlecht, doch die vielfältigen politischen Vorstösse in den Kantonen haben oft eine wacklige Datenbasis. Häufig genügt es, wenn ein Land etwas macht – dann finden sich auch in anderen Staaten Politiker, die das fordern.
Haben Sie Beispiele?
Nehmen Sie das Schliessen der Grenzen. Wissenschaftliche Arbeiten zeigen, dass globale Reiseeinschränkungen nichts bringen. Die Krankheit hat sich global ausgebreitet, das Virus macht vor keiner Grenze halt. Eindrückliches Beispiel sind die USA: Das Land machte die Grenzen dicht – und wurde trotzdem vom Virus überrollt.
Was würden Sie anders machen?
Ich habe kein Rezept. Grundsätzlich würde ich das Problem aber anders kommunizieren: Heute haben die Menschen grosse Angst. Sie fürchten sich vor einer Erkrankung. Doch für die allermeisten Leute ist die Erkrankung mild, es besteht also kein Grund zur Aufregung. Das zweite Missverständnis betrifft das Ziel der Massnahmen. Der Bund sagt klar: Wir wollen die Überlastung der Spitäler verhindern. Was aber in der Konsequenz nicht klar ist: Die Massnahme führt nur zur zeitlichen Verzögerung. Verhindern kann man die Ausbreitung des Virus dadurch nicht. Auch nicht bei älteren Leuten und Menschen mit einer Vorerkrankung.
Was sollte man am besten tun?
Ältere und vorerkrankte Menschen müssten über mindestens ein Jahr ein Leben in Isolation und Angst führen, bis wir vielleicht eine Impfung haben. Denn eines ist klar: Die Chancen, dass man im Verlauf des nächsten Jahres mit Covid-19 angesteckt wird, ist relativ hoch. Wir könnten versuchen, die Massnahmen gezielt bei Jungen und Gesunden zu lockern. Denn junge Menschen müssen sich nicht vor den Folgen einer Infektion fürchten. Ob aber gefährdete Menschen wirklich ihr Leben über längere Zeit einschränken wollen, bezweifle ich.
Sie vergleichen Covid-19 mit einer Grippe.
Ich habe nur gesagt, dass die Sterblichkeit bei Covid-19 in der Grössenordnung einer saisonalen Grippe liegt. Dafür wurde ich stark kritisiert. Ich glaube aber heute noch, dass das nicht so falsch ist.
Wie begründen Sie den Vergleich?
Viele Leute verwechseln Letalität mit Mortalität. Letalität ist die Häufigkeit, mit der eine Krankheit tödlich verläuft. Bei Covid-19 haben wir sehr viele Infizierte, die keine oder wenig Krankheitssymptome haben. Das führt zu einer tiefen Letalität. Die Mortalität hingegen bezeichnet die Sterblichkeit in einem gewissen Zeitraum im Verhältnis zur Bevölkerung. Im Gegensatz zu einer Grippe, bei der in einer normalen Saison etwa 5 bis 10 Prozent der Bevölkerung erkranken, sind es bei Covid-19 vielleicht 50 oder 70 Prozent. Das führt zu einer höheren Todeszahl.
Tragen Sie auch ausserhalb des Spitals eine Atemschutzmaske?
Weshalb sollte ich? Die Maske verhindert die Übertragung von einer infizierten Person, die auch Krankheitssymptome hat. Ein zusätzlicher Nutzen ist wissenschaftlich nicht erwiesen. Viele Leute gehen fälschlicherweise davon aus, dass jemand mit Husten sie anstecken kann. Doch der einfachste, wirkungsvollste, aber auch am schwierigsten umzusetzende Tipp ist: Nicht mit den Fingern ins Gesicht fassen! Ich ertappe mich selber, wie ich das ganz unbewusst immer wieder mache.
Zur Person
Professor Pietro Vernazza (63) ist Chefarzt der Infektiologie beim Kantonsspital St. Gallen. Der renommierte Mediziner machte in den Achtzigerjahren in der Anfangszeit der Krankheit vor allem mit seiner Aids-Sprechstunde von sich reden. Zu Beginn der Neunzigerjahre ging er als Stipendiat des Nationalfonds für zweieinhalb Jahre in die USA. An der University of North Carolina in Chapel Hill absolvierte er eine Ausbildung als Infektiologe und begann wissenschaftlich zu arbeiten. Der in St. Gallen wohnende Wissenschafter ist verheiratet und Vater von drei Kindern.
«Junge sollten sich impfen»
Am Grippevirus sterben in der Schweiz in einer mittleren bis schweren Grippesaison rund 1500 Menschen. Die Opfer sind wie bei Covid-19 vorwiegend ältere Leute. Aber nicht immer. Pietro Vernazza: «Diesen Februar starb bei uns im Spital eine 20-jährige Frau an der Grippe. Sie war völlig gesund und hatte auch keine Vorerkrankungen.» Weil das in keiner Statistik auftauche, erhalte auch niemand davon Kenntnis.
Noch ein Irrtum: In der Grippesaison werden oft gezielt Impfaktionen für ältere Leute angeboten. Weil deren Immunsystem nicht mehr so stark ist, bringt die Impfung nicht viel. Vernazzas Tipp: «Die Jungen müssen sich gegen Grippe impfen, so schützen sie die alten Menschen.»